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Interviews

Tendenzen Gespräch

Prof. Dr. Michael Wolffsohn , "Mr. Tagesthemen"

"Die Kirche scheint heute keine Antwort mehr zu haben!"

Ulrich Wickert, Hamburg ("Mr. Tagesthemen"), über die Probleme der Römisch-Katholischen Kirche mit der vom Materialismus geprägten bürgerlichen Gesellschaft am Beispiel Frankreichs

TENDENZEN: Im russischen Petersburg existieren sehr starke nationalistische Kräfte, in deren Büros Bilder von Goebbels und Hitler hängen. Seit Monaten ist jede neue Auflage der russischen Ausgabe von Hitlers "Mein Kampf" in wenigen Stunden vergriffen. Bei den jüngsten Wahlen erzielte Schirinowski mit seiner zwar dem Namen nach "liberal-demokratischen", ihrem Wesen aber nach "national-faschistischen" Partei sensationelle Ergebnisse. Kommen die nächsten Judenpogrome aus Rußland?

Wolffsohn: Auszuschließen ist das nicht. Aber umgekehrt ist zu hoffen, daß die Reformkräfte sich auf die Dauer durchsetzen und die Alt-Kommunisten und die Neu-Nationalisten und Reaktionäre zurückdrängen. Es ist auffallend gewesen, daß es schon beim Anti-Jelzin-Putschversuch eine starke Mischung aus altkommunistischen, extrem nationalistischen und extrem antisemitischen Parolen gegeben hat. Kurzum: Das Schicksal der Reformkräfte ist gleichzeitig das Schicksal der Juden in Rußland.

TENDENZEN: Sprechen wir über die religiöse Komponente: Es zeigt sich immer deutlicher, daß hinter dem Schüren einer antijüdischen Stimmung einflußreiche Kreise der russisch-orthodoxen Kirche stehen. Wo kommt diese latente Feindlichkeit gegenüber der jüdischen Religion in Rußland her?

Wolffsohn: Es gibt zwei Gründe dafür, die durch entsprechende Umfragen belegt sind. Der erste Grund ist in einem traditionellen christlichen Antijudaismus zu finden. Ca. 30 Prozent der Christen sind antijüdisch eingestellt, weil die Juden als Christus-Verfolger gelten. Ebenfalls Umfragen zufolge sind ca. 20 Prozent der Bevölkerung antijüdisch eingestellt, weil sie glauben, daß Juden den Kommunismus erfunden und am Leben erhalten hätten. Die Feindschaft kommt also einmal ganz von "rechts" und einmal ganz von "links". Und wie bei Vorurteilen allgemein üblich, brauchen die Menschen hier keine Plausibilitätskontrolle. So waren unter den frühen Revolutionären viele Juden zu finden, weil das zaristische Rußland antijüdisch eingestellt war. Ungezählte Juden haben aber im Verlauf der kommunistischen Herrschaft ihren diesbezüglichen "Irrtum" teuer, nämlich mit ihrem Leben, bezahlen müssen. Den Antisemitismus gab es in Westeuropa übrigens vor der Umstrukturierung der Kirche, des Katholizismus allgemein, im Vaticanum II. auch. Die osteuropäische und hier vor allem die russische Kirche hat vergleichbare Wandlungen aufgrund der Verfolgung nicht durchlaufen können. Und das ist der zweite Grund.

TENDENZEN: Der jetzige Papst, der wegen seiner vielen Reisen oft auch "der eilige Vater" genannt wird, möchte gerne nach Jerusalem fliegen. Er hat inzwischen die diplomatischen Beziehungen aufgenommen. Glauben Sie, daß er sich entschuldigen wird für das Verhalten der Katholischen Kirche bei den Judenverfolgungen?

Wolffsohn: Das vermag ich nicht zu sagen. Aber dieser Papst hat während seiner ganzen Amtszeit große Anstrengungen unternommen, um das Verhältnis zur jüdischen Welt zu verbessern. Ich erinnere an seinen historischen Besuch in der Synagoge in Rom und seine beachtliche Rede, die er dort gehalten hat, seine vermittelnde Funktion in den Jahren 1989 u.a. im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um das Karmelitenkloster in Auschwitz. Dieser Papst ist judenpolitisch gesehen sehr viel besser als sein Ruf. Die Tatsache, daß es erst seit Anfang dieses Jahres diplomatische Beziehungen zwischen Israel und Vatikan gibt, hat nicht allein er zu verantworten. Selbst ein reformerischer Papst wie Johannes XXIII. hat das nicht fertiggebracht. Es sind tagespolitische Rücksichten, die hier eine große Rolle spielen. Entschuldigen wird er sich m.E. vielleicht nicht, aber das Verhältnis zwischen Juden und Christen insgesamt wird sich entkrampfen, dies auf jeden Fall.

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