header

Interviews

Tendenzen Gespräch

Dr. Trutz Graf Kerssenbrock, Kiel

"Habt Mut zu euren eigenen Lehren zu stehen!"

Gespräch mit Dr. Trutz Graf Kerssenbrock über die Ursachen des Mitgliederschwundes in Parteien und Kirchen

TENDENZEN: Herr Dr. Kerssenbrock, Sie gaben Ihrem Buch "Abgewählt" den Untertitel "Wie den Parteien das Volk abhanden kam". Ist es nicht geradezu umgekehrt: Die Parteien kamen eher dem Volk abhanden? Oder anders ausgedrückt: Sie entschwebten dem Volk, denn der Kontakt zur Basis läßt zu wünschen übrig.

Dr.Kerssenbrock: Da könnte etwas dran sein. Gleichzeitig glaube ich schon, daß hier vieles "hausgemacht" ist und die Parteien - die beiden großen vor allem, um die es uns in diesem Buch geht - Wege, Strategien und Mittel hätten, diese schleichende Auszehrung, Vergreisung und auch den Mitgliederschwund zu begrenzen. Der jetzige Zustand ist reparabel.

TENDENZEN: Welche Rolle spielt hierbei der Zeitgeist im allgemeinen und die Individualisierung in vielen Lebensbereichen im besonderen? Früher suchte man die Identifikation in der Masse, heute wird die Individualität als eines der höchsten Güter angesehen.

Dr.Kerssenbrock: Das ist sicher ein Phänomen, das auch in anderen gesellschaftlichen Institutionen beobachtet werden kann, in Verbänden, Kirchen... Wenn das individuelle Engagement dort nicht mehr besonders gewürdigt wird, laufen die Menschen diesen Organisationen weg. Darum fordern wir auch, daß man die Binnenstrukturen der Parteien ändert.

TENDENZEN: Sie sagen: "...auch in anderen gesellschaftlichen Institutionen...". Inwieweit gilt dieser Gedake auch für große und kleine Kirchen in der Bundesrepublik?

Dr. Kerssenbrock: Sicherlich könnten ähnliche Gedanken auch für große und kleine Kirchen gelten. Allerdings ist der Weg der Veränderung der Binnenstruktur hier, aufgrund der verkrusteten Hierarchie, steiniger, in vielen Bereichen - obwohl dringend nötig! - womöglich gar nicht gangbar.

TENDENZEN: Im Jahre 1994 traten ca 230'000 Menschen aus den Kirchen aus. An der Kirchensteuer alleine wird es wohl nicht liegen...

Dr.Kerssenbrock: Nein, dies ist's allein mit Sicherheit nicht! In den beiden großen Kirchen gibt es ähnliche Phänomene wie in den Parteien, obgleich aus anderen Gründen. Zu ihnen gehört, daß die beiden Kirchen Stück für Stück "leergepredigt" wurden und immer noch werden. Das hängt nach meinem Dafürhalten mit ihrem jeweiligen unterschiedlichen politischen Kurs zusammen. Dabei wird ein großer Teil der Gläubigen vergrault. Ferner wirken die starren Machtstrukturen auf viele Menschen geradezu abstoßend.

TENDENZEN: Jemand hat einmal von der "christlichen Botschaft, die verpolitisiert worden ist", gesprochen. Die letzten Dinge hat man unter der Hand mit den vorletzten vertauscht. Der Sinn des Daseins wird in politischen Aktionen und nicht in der Gotteserkenntnis gesucht. Viele Pfarrer sehen ihre Hauptaufgabe darin, den Menschen zu helfen, ihre Lebensumstände zu verändern, und weniger darin, den Glauben der Menschen an eine transzendente Wirklichkeit zu stärken. Ist es dies, was die Leute abstößt?

Dr.Kerssenbrock: In der Tat ist dies ein Hauptproblem in der Evangelischen Kirche. In der Katholischen Kirchen gibt es auch Probleme der Politisierung, aber auf einem ganz anderen Gebiet, hier sei signifikant die Bevölkerungspolitik des Vatikans genannt, die sowohl in Deutschland als auch in Europa nicht verstanden wird. Ähnliches gilt auch auf dem Gebiet der Sexualethik der Römisch-Katholischen Kirche. Der "diesseitige" Einsatz kirchlicher Würdenträger ist sehr vergleichbar mit Erscheinungen, die wir in größeren Parteien und anderen größeren gesellschaftlichen Gruppierungen finden. Wir nennen es das Prinzip des "catch all": Möglichst viele Gedanken, Strömungen und Grundhaltungen "einzufangen" und einzubinden. Dies geht zwangsläufig auf Kosten der Unterscheidungsfähigkeit. Dies ist sicherlich das Problem der evangelischen Kirche, weniger der katholischen. Das Prinzip des "catch all" können Sie überall beobachten: In großen und kleinen Kirchen, in den Gewerkschaften, in den großen und kleinen Parteien...

TENDENZEN: Führt diese Entwicklung nicht zwangsläufig zum Verlust des eigenen Profils?

Dr.Kerssenbrock: Genau! Wir sagen den Parteien - vor allem den beiden großen: Habt Mut, euch wieder zu unterscheiden. Und im Grunde müßte man auch den Kirchen zurufen: Habt Mut, wieder zu euren eigenen Lehren zu stehen, aber mit ein bißchen tagespolitischer Bescheidenheit.

TENDENZEN: Kirchenpolitisch würde das, was Sie jetzt gesagt haben, bedeuten, daß die Ökumene der Kirchen - auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner - der falsche Weg ist?

Dr.Kerssenbrock: Also, diese Schlußfolgerung würde ich so nicht mittragen, obwohl sie dem eben Gesagten zu folgen scheint. Ich glaube schon, daß die beiden großen Kirchen den Weg der Ökumene fortsetzen sollten, weil es wahnsinnig viel Verbindendes und Verbindliches zwischen den Kirchen gibt. Die Kirchen haben sich im Laufe der Zeit, auf vielen Gebieten, auf denen sie sich einst unterschieden, längst wieder angenähert bzw. haben zueinander gefunden. Daß es dann darüber hinaus, zum

Home | Impressum | Haftung