Joachim Gauck, geb. 1940 in Rostock, studierte nach dem      Abitur Theologie. Als Pfarrer in Lüssow bei Güstrow und später im Neubaugebiet      Rostock-Everhagen wurde Gauck durch seine offenen und kritischen Worte bekannt. 1989      gehörte Gauck zu Mitbegründern des "Neuen Forums" in seiner Heimatstadt. Dort      war er Mitiniator des kirchlichen und öffentlichen Widerstands gegen SED-Diktatur. Wenig      später zog er als Abgeordneter der Bürgerbewegung im März 1990 in die Volkskammer ein      und wurde zum Vorsitzenden des Parlamentarischen Sonderausschusses zur MfS-Auflösung      gewählt.
  Nach der Wahl durch die Volkskammer zum 3. Oktober 1990 vom      Bundespräsidenten und Bundeskanzler zum "Sonderbeauftragten der Bundesregierung für      die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes" berufen.
  Seit Verabschiedung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes des      Deutschen Bundestages Ende 1991 "Bundesbeauftragter für die Unterlagen des      Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik" mit      Dienstsitz Berlin. Am 21.09.1995 wurde Joachim Gauck für seine 2. Amtsperiode vom      Deutschen Bundestag bestätigt.
  Er ist 1991 zusammen mit fünf weiteren ehemaligen      DDR-Bürgern (unter ihnen Jens Reich und Ulrike Poppe) mit der Theodor-Heuss-Medaille      ausgezeichnet worden.
  Im September 1995 erhielt Joachim Gauck aus der Hand von      Bundespräsident Prof. Dr. Roman Herzog das Bundesverdienstkreuz.
   
  
  
     TENDENZEN: Manche Leute rümpfen die Nase, wenn Sie als Pfarrer - und damit als      bekennender Christ, was ja heute nicht immer unbedingt deckungsgleich sein muß - für das      Aufarbeiten vergangener Sünden eintreten. Was würden Sie diesen Leuten antworten?
    GAUCK: Folgendes sei vorangestellt: Für meine jetzige      Aufgabe mußte ich meine Ordinationsurkunde abgeben. Ich bin also nicht mehr Pfarrer.      Bekennender Christ bin ich geblieben, und das ist mir heute sehr oft hilfreich. Christ zu      sein bedeutet für mich nicht, jegliche Schuld kommentarlos zu vergeben, insbesondere      nicht, wenn dadurch Menschen an Leib und Seele zu Schaden gekommen sind.
    Wir hätten es bequem haben: Wir hätten die rund 180 km      Material, die uns die Stasi hinterlassen hat, vermauern oder verbrennen können und      hätten dann - zumindest oberflächlich - unsere Ruhe gehabt. Doch wir haben uns für die      Aufarbeitung entschieden, weil wir ein Gespür dafür hatten, wie nützlich der      Schlußstrich für die Unterdrücker von einst gewesen wäre. Der Schlußstrich klingt so      christlich, aber seine Auswirkungen sind in aller Regel eine Begünstigung der Repression      und der Diktatoren, die die Repression ausgeübt haben.
    TENDENZEN: An welchem markanten Ereignis könnten      Sie diese Haltung festmachen?
    GAUCK: Als die jungen Leute in Scharen über Ungarn      in die Bundesrepublik flüchteten, schrieb die SED-Zeitung "Neues Deutschland":      "Denen weinen wir keine Träne nach!" Das brachte Tausende auf die Barrikaden.      Zu diesem Zeitpunkt war noch überhaupt nicht klar, wer die Stasi war, und wie sie war.      Wir hatten Vermutungen, mehr nicht. Und dann stellte sich heraus, daß der alte Apparat in      den neuen Strukturen bereits wieder fleißig seine Netze spann. Ich erinnere nur an die      Enttarnung des Vorsitzenden der Ost-SPD und des Vorsitzenden der Partei Demokratischer      Aufbruch. Der Ruf "Stasi in die Produktion!" bedeutete: Wir wollten diese      Stasi-Leute nicht aufgeknüpft sehen - sie sollten nur genauso normal leben andere auch.      Und sie sollten nicht wieder über andere Macht ausüben können.
    TENDENZEN: Wie schätzen Sie den politischen      Instinkt derer ein, die 1989 auf die Straße gingen?
    GAUCK: Sie wollten nicht mehr immer nur Ja sagen und      Nein denken. Die Verlogenheit des Systems hatte ein Ausmaß erreicht, daß es fast      körperlich schmerzte. Dagegen haben die Menschen sich gewehrt, weil es keinen anderen      Ausweg mehr gab. Sie wußten nicht genau, was der Westen ist, aber sie wußten, was der      Osten ist. Und den wollten sie so nicht mehr.
    TENDENZEN: Manche Ihrer Kritiker halten Ihnen den      paulinischen Satz "Wir sind doch allzumal Sünder" entgegen. Sie wollen damit      erreichen, daß Sie und Ihre Behörde endlich die Akten der Vergangenheit schließen.
    GAUCK: Dieser paulinische Satz wird gern von denen      in den politischen Raum gehoben, die entschuldigen und relativieren wollen. Das ist aber      etwas anderes als christliche Vergebung. Die paulinischen Briefe rechtfertigen oder      entschuldigen nicht das Böse. Für Christen ist Vergebung unerläßlich, doch sie      erwächst nicht aus menschlicher Weißwäscherei. Aufarbeitung ist schwierig und tut weh.      Man sieht sich selbst, und man mag sich nicht: "Ich habe geschwiegen, als ich hätte      reden müssen; ich habe weggeschaut, als ich hätte eingreifen müssen." Aber wir      müssen genau hinsehen, sonst bleiben wir traumatisiert. Wir müssen aufarbeiten, um uns      zu befreien. Wenn wir noch etwas aufzuarbeiten haben, dann werden wir das tun müssen,      oder wir werden unglaubwürdig. In den Akten erkennt man auch, daß manche den Mut hatten,      nein zu sagen.
    TENDENZEN: Sie haben in Ihrem Vortrag den großen      Mangel an Zivilcourage angeführt, und ein deutscher Dichter hat einmal geschrieben      "Zivilcourage wiegt weitaus mehr als Heldenmut". Wo also setzt man mit      Zivilcourage in einer Diktatur auf subtile Weise ein Signal?
    GAUCK: Das beginnt mit der Verweigerung der      Begeisterung.
    TENDENZEN: Wie können Sie unser Versagen      als Deutsche der braunen und der roten Diktatur auf einen Nenner bringen?
    GAUCK: Die Deutschen ließen sich zu Untertanen      machen. Vielleicht ist diese Haltung begründet in der Tatsache, daß Deutsche in ihrer      Geschichte mit demokratischen Staatsformen wenig Erfahrung gemacht haben. Es gab ja nur      die Weimarer Republik, und in der ging es - gelinde gesagt - drunter und drüber. Ich      glaube nicht, daß es ein Gen gibt, das den Deutschen zum potentiellen Untertanen macht      und den Franzosen nicht.
    TENDENZEN: Aber wie ist das mit den Deutschen,      wenn die Diktatur fällt?
    GAUCK: Es ist schwer, das Gehabe des Untertans      loszuwerden. Menschen werden in ihrer Mentalität um so intensiver geprägt, je länger      der Druck der Diktatur dauert. Unter solchen Systemen verliert der Mensch einen Teil der      Fähigkeit, selbstbestimmt zu leben. Viele glauben dann, es sei normal, nicht über sich      selbst bestimmen zu können. Wenn die Diktatur fällt, sind die Menschen zunächst      orientierungslos und damit leicht zu manipulieren, natürlich auch für neue Diktatoren.      Daß sich im Westen Deutschlands nach dem zweiten Weltkrieg eine Demokratie, im Osten aber      eine neue Diktatur entwickelte, lag nicht daran, daß westlich der Elbe die besseren und      klügeren Deutschen wohnten. Jede Besatzungszone wurde im Grunde genommen zunächst nach      dem Vorbild der Besatzer orientiert.
    TENDENZEN: Wie wirkt sich eigentlich      Gehirnwäsche selbst bei hochintelligenten Untertanen in einer Diktatur aus?
    GAUCK: Es gibt einen Verlust von Wirklichkeit für      jeden Menschen, der unter totalitärer Herrschaft lebt. Jede Wahrheit kann zur Lüge und      jede Lüge zur Wahrheit gemacht werden. Der Untertan ist durch jahre- oder jahrzehntelange      Prägung darauf ausgerichtet, immer ganz dicht bei der Meinung der Herrschenden zu sein.      Nur dadurch kann er überleben. Motto: Beuge dein Haupt, passe dich an, und es wird dir      gut gehen. Der Grad der Intelligenz spielt dabei keine Rolle. Wer weiterkommen will,      ordnet sich unter.
    TENDENZEN: Was sagen Sie zur Nostalgie in weiten      Kreisen der ehemaligen DDR?
    GAUCK: Es sei im Sozialismus nicht alles schlecht      gewesen, höre ich heute immer wieder, und dann kommt in aller Regel das Argument mit den      Kindergärten. Es liegt in der Natur des Menschen, sich im Nachhinein zuerst an das      vermeintlich Gute zu erinnern, und es gibt politische Strömungen in diesem Land, die das      unterstützen. Gern vergessen wird bei dieser Art der Rückschau das Fehlen aller      fundamentalen Werte der Demokratie in der DDR wie beispielsweise Bürgerrechte,      Gewaltenteilung und freie Meinungsäußerung. Ich habe den Eindruck, daß sich eine Reihe      von Menschen - unbewußt - nach der alten Ohnmacht sehnt. Die war so schön bequem. Wer      vom Westen nur das große Auto und die Pauschalreise nach Mallorca wollte, mußte      begreifen, daß das eine ohne das andere nicht zu haben ist. Auch die freiheitlich      demokratische Grundordnung ist nicht der Himmel auf Erden. Doch ich bitte gleichzeitig um      Geduld: Wer jahrzehntelang fremdbestimmt lebte, kann nicht von heute auf morgen umdenken.      Man kann nicht ein ganzes Volk mit einem Bekehrungsakt vom Stadium des Aberglaubens in das      Stadium des Aufgeklärtseins bringen. Dies ist ein Prozeß, der noch einige Jahre andauern      wird, und die Öffnung der MfS-Akten trägt einen Teil zur notwendigen Aufklärung bei.
    TENDENZEN: Das ist also so ähnlich wie nach dem      Untergang des Dritten Reiches?
    GAUCK: Vor einiger Zeit fiel mir eine      Allensbach-Studie aus dem Jahr 1948 in die Hände. Die Frage lautete damals: "Glauben      Sie, daß der Nationalsozialismus eine gute Sache war, die nur schlecht gemacht worden      ist?" Damals bejahten 57 Prozent der Befragten, frei nach dem Motto: Der Führer hat      die Autobahn gebaut; es gab Vollbeschäftigung und keine Kriminalität. Und dies nach      einer "nur" zwölfjährigen Diktatur. Die DDR gab es 40 Jahre!
    TENDENZEN: Im Grunde waren es doch in diesem      Jahrhundert die Christen hierzulande, die gegenüber den Diktaturen größtenteils versagt      haben. Was läßt die Untertanen oft so fasziniert auf den Obertan schauen?
    GAUCK: Wie Václav Havel sagte: Die Macht der      Mächtigen kommt von der Ohnmacht der Ohnmächtigen. Es gibt keine Kirche, keine      Religionsgemeinschaft, die von Verstrickungen mit den jeweiligen Machthabern im Staat      verschont geblieben ist. Mitunter ist die evangelische Kirche in der DDR um der      Aufrechterhaltung des Dialogs willen mit der Staats- und SED-Führung Kompromisse      eingegangen, die uns heute fragwürdig erscheinen. Auch Christen sind der Versuchung      erlegen, mit der Staatssicherheit zusammenzuarbeiten. Von "fasziniertem Schauen auf      den Obertan" möchte ich aber nicht sprechen. Schließlich war es auch die      evangelische Kirche, die in der DDR zu den Wegbereitern der friedlichen Revolution      gehörte. Vielfach hatte sich in den Gemeinden und Synoden eine demokratische Gegenkultur      entwickelt, die den Aufbruch 1989 begünstigte.
    TENDENZEN: Welchen Rat gäben Sie jungen Leuten,      die an diesem Abend Ihrem Referat lauschten?
    GAUCK: Man darf nicht jedem Streit aus dem Wege      gehen. Es gibt eine scheinbare Friedlichkeit, die nur Aggressionsgehemmtheit darstellt.      Ein produktiver Streit ist mir wesentlich lieber als stille Resignation. Ich fordere auch      die jungen Leute auf, Demokratie mitzugestalten, sich einzumischen, ihre Meinung zu      vertreten. Jeder von uns ist für sich und sein Handeln selbst verantwortlich. Aber jeder      von uns ist auch ein Mitglied dieser Gesellschaft, und wir müssen gemeinsam dafür      sorgen, daß in Deutschland nie wieder eine Minderheit die Macht über die Mehrheit      erlangt.
    TENDENZEN: Sind Ihnen Fälle bekannt, daß nach      Einsichtnahme in Akten Wiedergutmachungsprozesse geführt wurden?
    GAUCK: Allein bis zum Ende des vergangenen Jahres      wurden an meine Behörde weit über 50 000 Anträge auf Akteneinsicht bzw. Herausgabe von      Unterlagen zum Zwecke der Rehabilitierung und ca. 30 000 Anträge zum Zwecke der      Wiedergutmachung gestellt. Im Verhältnis zur Gesamtzahl aller an den Bundesbeauftragten      gerichteten Ersuchen von ca. 3,4 Millionen nehmen sich die Zahlen gering aus, und doch ist      mir dieser Bereich unserer Tätigkeit einer der wichtigsten. Wer in der Sowjetischen      Besatzungszone oder später in der DDR zu Unrecht verurteilt war, wer in der Haftzeit      physische oder psychische Schäden erlitt, der hat ein Recht darauf, rehabilitiert zu      werden oder finanzielle Entschädigung zu erhalten. Oftmals finden sich nur in den von der      Staatssicherheit angelegten und archivierten Aktenbeständen die für den Nachweis etwa      von finanziellen Ansprüchen notwendigen Unterlagen.
    TENDENZEN: Sind Ihnen Fälle bekannt, wo sich      Menschen, die vorher bespitzelt wurden, nach Aussprache mit "ihren" Bespitzelern      versöhnten?
    GAUCK: Ja, auch das gibt es, aber eher selten. Als      das Stasi-Unterlagen-Gesetz in Kraft getreten war, und die Menschen begannen, in die über      sie geführten Akten Einsicht zu nehmen, befürchteten verschiedene Kreise in diesem Land      eine Welle der Selbstjustiz. Dazu ist es dank der Vernunft und der Weitsicht der ehemals      Bespitzelten nicht gekommen. Leider treffe ich jedoch selten auf ehemalige inoffizielle      oder hauptamtliche MfS-Mitarbeiter, die dazu bereit sind, ihren persönlichen Teil von      Verantwortung und Schuld einzugestehen und sich damit aktiv auseinanderzusetzen, die auf      die Geschädigten zugehen und mit ihnen gemeinsam versuchen, Erklärungen für ihr      Verhalten zu finden. Versöhnung ohne die Frage nach der Wahrheit und den Gründen für      einstiges Handeln aber ist nicht möglich.
    (Das Gespräch führten Heinz und Sigrun Schumacher)