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Interviews

Tendenzen Gespräch

Prof. Dr. Peter Glotz, Erfurt

"Es gibt viele wahre Nachrichten, aber es sind auch falsche darunter!"

Prof. Dr. Peter Glotz über Individualisierungstrends und Orientierungslosigkeit in unserer Gesellschaft und über den richtigen Umgang mit Informationen

TENDENZEN: Als vor 14 Jahren Helmut Kohl Bundeskanzler wurde, sollte in unserem Land eine "geistige und moralische Wende" eingeleitet werden. Was ist aus Ihrer Sicht daraus geworden?

Dr.Glotz: Eine "geistig-moralische Wende", wie Kohl sie anvisiert hat, hat es nicht gegeben. Man muß ehrlicherweise sagen, daß er selbst diese Idee auch nicht weiter verfolgt hat. Das war eine geschickt gewählte Wahlkampfdebatte. Eigentlich haben die darin liegenden konservativen geistigen Tendenzen den gegenwärtigen Bundeskanzler nie richtig interessiert. Aus diesem Grunde fand eine ideologische Auseinandersetzung mit diesem Thema nur auf einigen wenigen Kongressen statt.

TENDENZEN: Viele beklagen die rapid abnehmende Solidarität unter den Menschen. Welchen Anteil hat die politische Kultur daran, denn wenn selbst in den höchsten politischen Kreisen Korruption und Mord möglich sind (jüngstes Beispiel: Belgien), kann man dem einzelnen Bürger nicht verübeln, wenn er stets auf seinen Vorteil aus ist?

Dr.Glotz: Ich würde den Fall in Belgien nicht verallgemeinern. In den höchsten politischen Kreisen in Deutschland ist das Interesse für intellektuelle Prozesse gering. Korruption und Mord sind hier nicht üblich. Mord jedenfalls nicht, Korruption auch nur selten. Insofern darf man nicht alles über einen Kamm scheren. Wenn man von der abnehmenden Solidarität unter den Menschen spricht, muß man eher über die Strukturen reden als über die Tugenden von Menschen. Und die Strukturen sind so, daß die Wirtschaft sich globalisiert, d.h. auf gut Deutsch, daß die Deutschen in Konkurrenz stehen mit den Leuten in Taiwan, Malaysia und in der Tschechischen Republik. Daß die Unternehmen daraus ihre Konsequenzen ziehen und daß demgemäß ein viel härterer Kampf der Kapitalismen stattfindet, ist in Deutschland, wie ich glaube, noch gar nicht richtig erkannt worden. Ich will nicht den neuen Karl Marx an die Wand malen, aber daß die Leute das, was da kommt, alles friedlich schlucken werden, daran habe ich meine Zweifel. Wir stehen vor einer Phase verschärfter Auseinandersetzungen - früher hätte man dazu gesagt: Klassenkämpfe - und die ist mit der Rede von Solidarität nicht zuzutünchen.

TENDENZEN: Gewerkschaften und Kirchen laufen die Menschen davon. Einige Beobachter sehen als Grund dafür eine Identifikationkrise. Gewerkschaftsfunktionäre können sich bisweilen recht orthodox-kapitalistisch benehmen (Otto, Steinkühler, usw.), und ökumenischer Schmusekurs der evangelischen Kirchen ist dem protestantischen Sendungsbewußtein abträglich. Sind wir zu liberal geworden und fürchten, auf Unterschiede zu pochen?

Dr.Glotz: In der Tat haben große Organisationen ihre Probleme: Die Parteien, die Gewerkschaften, die Kirchen. Das hängt - wie ich beobachten kann - sehr stark mit dem Individualisierungstrend zusammen. Auch die Familien halten nicht mehr so zusammen, wie früher. Es gibt heute ein Heer von Alleinerziehenden, Menschen, die ohne sexuelle Beziehungen zusammenleben oder solche, die in kompliziertesten Beziehungsgeflechten leben. Die klassischen Strukturen haben sich sehr verändert. Die Individualisierung ist auch das Zeichen für eine Identifikationskrise. Die einzelnen Menschen sind nicht mehr bereit, sich mit nur einer Rolle zufriedenzugeben, sie haben meistens mehrere Rollen, spielen mehrere Rollen und aus diesem Grunde ist ihre Bereitschaft, sich nur einer Rolle in einer großen Organisation zu verschreiben, sehr viel geringer als früher. Ob man das mit dem Satz ausdrücken kann und soll: "Wir sind zu liberal geworden" weiß ich nicht. Die Individualisierung hat etwas mit den veränderten Strukturen zu tun und hier insbesondere vor dem Hintergrund der Kommunikationsrevolution, die in vollem Gange ist. Wir sind wohl nicht zu liberal geworden, sondern Menschen passen sich einer Entwicklung an, die zu immer größerer Globarisierung führt. Man kann das bedauern, aber ich bitte zu bedenken, daß diese Entwicklung nicht nur Nachteile mit sich bringt, sondern auch Vorteile - denken wir z.B. an die enorme Horizonterweiterung für einen jeden einzelnen von uns.

TENZENZEN: Ein Kennzeichen der Identifikationskrise ist sicherlich eine gewisse Orientierungslosigkeit. Sollte dies nicht die Stunde der christlichen Kirchen und der biblischen Botschaft sein? Weiß der Protestantismus auf die Fragen nach Identifikation keine Antwort, weil die Theologie zu sehr diesseits orientiert ist?

Dr.Glotz: Wenn man Ihre Frage zur einer Behauptung erhebt und womöglich noch radikalisiert, kommt man beim Fuldaer Bischof Dyba raus. Das bringt uns nicht weiter. In diesen Streit der Kirchen will ich mich auch ungern einmischen, denn ich glaube nicht an diese These. Natürlich kämpfen auch die Kirchen um - ich sage es etwas respektlos - ihren Marktanteil. Den empfinden sie im Augenblick als zu gering. Ob die Strategie des polnischen Papstes bei diesem Kampf richtig ist, nach wie vor von "Empfängnisverhütung ist des Teufels!" zu sprechen oder "Abtreibung darf nicht sein!" oder "Maria hat unbefleckt empfangen!", da habe ich so meine Zweifel und kann es als agnostisch Gestimmter von außen letztlich nicht beurteilen. Aber die These "Die Kirchen kümmern sich mehr um Sozialpolitik als um den lieben Gott" stammt eher von den Leuten, denen es lästig ist, daß sich die Kirchen um Auswirkungen der Sparpolitik auf die Menschen kümmern. Eine solche Tendenz will ich nicht unterstützen.

TENDENZEN: Zum dritten Band Ihrer Aufzeichnungen "Die Jahre der Verdrossenheit": Sie erwähnen unter 9. August 1994 eine Rundfunkmeldung, wonach der NRW-Finanzminister die Aufhebung des Bankgeheimnisses fordert. Dann schreiben Sie wörtlich: "Entweder ist es eine platte Lüge, oder wir sind verrückt geworden." Sie gehen davon aus, daß die Nachricht, die verbreitet wird, womöglich gar nicht wahr ist. Nachrichten als Lüge?

Dr.Glotz: Davon muß man bisweilen kritischerweise auch ausgehen. Das Hinterfragen der Nachrichten ist wichtig. Es gibt viele wahre Nachrichten, aber es sind auch falsche darunter.

TENDENZEN: Aber als Normalbürger muß ich mich auf die Nachrichten verlassen können...

Dr.Glotz: Das würde ich Ihnen dringend abraten. Das Verlassen ist nicht richtig.

TENDENZEN: Aber wem kann man dann glauben?

Dr.Glotz: Also ich glaube beispielsweise mehr der "Süddeutschen Zeitung" als der "Bild-Zeitung",...

TENDENZEN: ...und wie Sie in Ihrem Buch schreiben, der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung"...

Dr.Glotz: Klar, der glaube ich auch wieder mehr als der "Bild-Zeitung". Im übrigen kann ich das auch einschätzen. Ich weiß, daß die FAZ eine Zeitung ist, die exakt berichtet, die aber an sich ein sehr konservatives Weltbild hat. Wenn ich das von vornherein weiß, kann ich mich darauf einstellen. Das ist im Grunde die Medienkompetenz, die jeder Bürger haben sollte.

TENDENZEN: Aber wer kann schon täglich mindestens drei Zeitungen lesen! Sie sagten vorhin, wir erleben eine Kommunikationsrevolution. Aber verhindert nicht die Fülle an Informationen, letztlich die Wahrheit zu erfahren? Oder provokant gefragt: Ist womöglich die Informationsflut ein Instrument zur Verschleierung der Wahrheit?

Dr.Glotz: Alles hängt davon ab, wie man sich dieser Mediengesellschaft bedient. Ich kann stundenlang vorm Internet sitzen und am Ende sagen: Die Informationsflut erschlägt mich. Aber ich kann bewußt unter der Fülle von Zeitungen und Fernsehprogrammen diejenigen auswählen, mit denen ich die besten Erfahrungen gemacht habe. Das tägliche Medienbudget von ca. zwei Stunden, das jeder Deutsche hat, kann man sinnvoll nutzen, indem man zwei Zeitungen liest und gezielt fern sieht. Man kann sich aber auch zwei Stunden durch jeden Mist "hindurchzappen" und am Ende über nichts informiert sein. Das hängt letztlich von jedem einzelnen ab, wie man sich dieses Systems bedient. Man kann heute besser informiert sein als von 20 Jahren, nur man muß es können.

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