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Interviews

Zum Nachdenken

Claus Jacobi, Hamburg

Stuermer

Claus Jacobi, 71, war bis Ende 1998 Herausgeber von "Welt am Sonntag". Jeden Samstag veröffentlicht er eine Kolumne in der Bild-Zeitung. Ausgewählte veröffentlicht TENDENZEN mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.










Zufrieden?

"Oft büsst das Gute ein, wer besseres sucht."

William Shakespeare, "King Lear"

Unzufriedenheit ist die Krankheit unserer Zeit. Menschen können den Hals nicht voll kriegen. Immer größer, immer teurer, immer besser. Mehr, mehr, mehr. Der Unzufriedene, so heißt es, hat oft zu viel, aber nie genug.

Das ist nicht erst seit heute so. "Die maßlose Unzufriedenheit ist fast ein Kennzeichen unserer Tage", sagte der 88jährige Konrad Adenauer schon 1962: "Kein Mensch der Welt soll glauben dass man dadurch glücklicher wird, wenn einem jeder Wunsch erfüllt wird. Dann hat man überhaupt keine Freude mehr am Leben und keine Freude an der Arbeit."

Gut gebrüllt Löwe. Aber haben die Deutschen auf den Rat des alten Herren gehört? Wenig spricht dafür. Im Gegenteil: Sie wirken unzufriedener denn je (ausnahmsweise ist daran einmal nicht der amtierende Bundeskanzler schuld).

Menschen sind unzufrieden mit Staat, Staus und Steuer, Wetter und Wiedervereinigung, mit dem Mist in den Medien und dem Essen in der Kantine. Männer sind unzufrieden mit ihrem Einkommen, Frauen mit ihrer Rolle. Unzufriedene intrigieren, demonstrieren, randalieren, wählen links und rechts außen, werden mürrisch und selbstsüchtig, sind gelb vor Neid und rot vor Ärger.

Unzufriedenheit vertreibt sie sogar aus den Nischen des Glücks. Einer Füchsin steht Zufriedenheit auf der Schnauze geschrieben, wenn ihre Welpen auf ihr rumturnen und sie in die Ohren zwicken. So manches Menschenkind aber wird gar nicht geboren oder wächst bei der Tagesmutter auf, weil Mutter Kohle macht. Macht es sie auch zufriedener?

Selbst jene Institutionen, die uns einst halfen durch Glauben zum Frieden der Zufriedenen zu finden, streben offenbar neuen Ufern entgegen. Am Pfarrhaus der St.-Marien-Kirche von Flensburg wurde eine Gedenktafel angebracht: "In diesem Haus wohnte von 1948 bis 1961 Beate Uhse." Die tüchtige Frau hat zweifellos einen eindrucksvollen Beitrag zu neuen Zufriedenheit geliefert.

Unzufriedenheit ist so alt wie der Zweibeiner und von ihrem Ursprung her kein Übel. Jede Menge Fortschritt in der Geschichte der Menschheit war ihr zu verdanken. Wenn aber Menschen keinen anderen Sinn des Lebens mehr kennen als das eigene Wohlbefinden, muss Unzufriedenheit zwangsläufig zu bisher unbekannte Dimensionen anwachsen. Im Zeitalter des Materialismus haben sich viele auf diesen Weg gemacht. Nie ging es uns so gut, nie schien es so viel Unzufriedenheit zu geben.

"Wer nicht zufrieden ist mit dem, was er hat", meinte Berthold Auerbach vor über 100 Jahren, "der wäre auch nicht zufrieden mit dem, was er haben möchte."

Es lohnt sich darüber nachzudenken. Und nicht nur zu Weihnachtszeit.

Buchtipp:

Joachim Fest

Claus Jacobi
Von Glück, Gespenstern und dem Geheimnis des Lebens
Denkanstösse über den Tag hinaus

208 Seiten, gebunden
Goldmann Taschenbuch

29,80 DM

ISBN : 3-7766-2074-9

Eine Auswahl von 78 Kolumnen, die Claus Jacobi in den letzten Jahren veröffentlicht hat, ist jetzt zum ersten Mal als unter Von Glück, Gespenstern und dem Gehiemnis des Lebens erschienen. Es sind Glanzstücke des deutschen Journalismus. Jacobi liebt Geschichte und Geschichten. "Political correctness" läßt ihn "kalt wie der Kuß einer Tante". Und er ist überzeugt: "Wenn Heuchelei dick machen würde, bräuchten unsere Parlamente Flügeltüren".

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