Tendenzen Gespräch
  
  Marcel Reich-Ranicki, Frankfurt/Main 
  
  
  
  
 Marcel Reich-Ranicki, wird 1920 in der polnischen                 Kleinstadt Wloclawek an der Weichsel geboren. 1929 zieht er mit                 seinen Eltern nach Berlin, wo er 1938 das Abitur ablegt. Aufgrund                 seiner jüdischen Abstammung wird er nicht zum Studium zugelassen,                 woraufhin er eine Lehre in einer Exportfirma beginnt. Noch im selben                 Jahr wird er mit seiner Familie deportiert - zurück nach Polen, ins Warschauer                 Ghetto. Dort heiratet er 1943 seine Frau Teofila und flieht zu einer                 polnischen Familie, bei der beide die nationalsozialistische Verfolgung                 überleben. Als die Rote Armee Polen befreit, tritt er 1946                 der kommunistischen Partei bei. 1948 wird er Chef des Generalkonsulats                 der Republik Polen in London. Wegen ihrer antisemitischen Haltung                 bittet er um Entlassung aus der Partei. Er findet Arbeit in einem                 polnischen Verlag in Warschau, wo er sich auf deutsche Literatur                 spezialisiert. Ein                 Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird dort auf                 ihn aufmerksam und empfiehlt ihn an den damaligen Literaturchef                 Friedrich Sieburg. 1958 reist er nach Deutschland aus und arbeitet                 als freier Kritiker. Seine Artikel erscheinen vermehrt in der F.A.Z.,                 er nimmt an den Tagungen der Gruppe 47 teil, ab 1960 rezensiert                 er für die Zeit, für die er bis 1973 ständig arbeiten                 wird. Er schreibt über Alfred Andersch, Ingeborg Bachmann,                 Martin Walser und viele andere Gegenwartsautoren. 1963 veröffentlicht                 er sein erstes Buch unter dem Titel "Deutsche Literatur in                 Ost und West", er lehrt an amerikanischen Universitäten,                 1970 publiziert er eines seiner bekanntesten Werke: "Lauter                 Verrisse". Von 1973 bis 1988 leitet er den Literaturteil der                 F.A.Z.; er ist dort auch heute noch als Kritiker und Redakteur der                 "Frankfurter Anthologie" tätig. Von 1971 bis 1975                 ist er Gastprofessor in Stockholm und Uppsala, seit 1974 ist er                 Honorarprofessor an der Universität Tübingen. Nach der                 Beendigung seiner Festanstellung bei der F.A.Z. (1988) wechselt                 das Medium. Im selben Jahr hat das "Literarische Quartett"                 Premiere und avanciert zur wichtigsten Literatursendung im deutschen                 Fernsehen. Im Jahr 2001 endet das "Literarische Quartett",                 danach bestreitet er weitere Sendungen unter dem Titel "Solo". 
   
  
  
    
"Bildung fördern durch Verführung zum Lesen!" 
  
  
  Der grosse deutsche           Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki über die Wechselbeziehung           zwischen Literatur und Bildung, den manischen Ehrgeiz mancher Regisseure           und die Aufgabe des von ihm herausgegebenen Kanons der deutschen Literatur           (Romane)
  
  
  
  
   
    Marcel               Reich-Ranicki im Gespräch mit A.Schosch. (Foto: Werner Renz, Stimme der Hoffnung,               Darmstadt)
   
  
  
    TENDENZEN: Bei der Frankfurter Buchmesse fällt 2002           zweierlei auf: Weniger Verlage stellen aus als zuvor und auch die Zahl           der Neuerscheinungen erreicht die Werte des Vorjahre nicht. Nicht zuletzt           durch die Ergebnisse der sogenannten PISA-Studie wird in Deutschland landauf           landab plötzlich über die Bildung diskutiert. Kann man hier           eine Gleichung herstellen - "Rückgang der Literatur = Rückgang           der Bildung"?  
    MARCEL REICH-RANICKI: Das muss nicht automatisch sein. Es ist richtig, dass Bildung vom Buch           vermittelt wird, aber eben nicht nur vom Buch allein! Auch das Fernsehen           vermittelt Bildung - in bestimmten Programmen und in bestimmten Sendungen           natürlich. Auch das Theater und der Film vermitteln Bildung. Deshalb           kann man nicht sagen: Bildung wird, wenn weniger Bücher verkauft           werden, automatisch zurückgehen.
    TENDENZEN: Vieles           segelt unter der Flagge "Kunst", das statt Bildung zu fördern,           bestenfalls sich im Tabu-Brechen erschöpft. Sie haben gerade u.a.           Theater genannt. Muß wirklich bei "Faust" Gretchen nackt           auf der Bühne auftreten?
    REICH-RANICKI: Nein!           Sie sprechen den Unsinn, der sich auf deutschen Theatern abspielt, an.           Ich habe mich in einer Rede, die in meinem Buch "Vom Tage gefordert"           enthalten ist, damit ausführlich beschäftigt. Dieses Blödsinn           mit dem nackten Gretchen ist infantil und natürlich vollkommen überflüssig.           Dies kann ich nur auf den manischen Ehrgeiz mancher Regisseure zurückführen,           die damit um jeden Preis auffallen wollen.
    TENDENZEN: Einschlägige Umfragen bei jungen Menschen auf der Straße (ARD/ZDF-Frühstücksfernsehen           vom 10.10.2002) offenbaren, kaum einer kann sich erinnern, wann er zuletzt           ein Buch gelesen, außer vielleicht ein Computer-Handbuch. Was muß           getan werden, um vor allem jungen Menschen zum Lesen "zu verführen"?
    REICH-RANICKI: Zum Lesen           verführen kann vor allem die Schule! Aber auch das Fernsehen und           die Zeitungen. Und natürlich auch entsprechende Editionen der Verlagshäuser.           Der jetzt von mir hier im Suhrkamp-Verlag herausgegebene "Kanon"           ist ein wichtiges Zeichen und zum "Verführen zum Lesen"           gedacht.
   
 
	 
 
Buchtipp:
  
 
  
  
  
  Marcel           Reich-Ranicki
      MEIN LEBEN
    Autobiographie
  568 Seiten
    Gebunden mit Schutzumschlag
  € 25,- / SFR 43,60
    Stuttgart, München 17. Auflage 2001
    Erstausgabe 1999
  In diesem Buch, das weder Triumphgesang           noch Klagelied ist bewährt sich der Kritiker als tempramentvoller           und anschaulicher Erzähler und als unbestechlicher Zeuge des Jahrhunderts.           Farbig pointiert und anekdotenreich schildert Reich-Ranicki die Stationen           seines so bewegten wie bewegenden Lebens. Er berichtet über die "Gruppe           47", er beschreibt seine Jahre als ständiger Kritiker bei der           Wochenzeitung "Die Zeit" und später als Literaturchef der           "Frankfurter Allgemeinen", er erinnert sich an Begegnungen mit           großen Schriftstellern seiner Zeit, mit Bertold Brecht und Anna           Seghers, mit Elias Canetti und Thomas Bernhard, mit Böll, Frisch           und Grass und vielen anderen. So skizziert er ein aufschlußreiches           und überraschendes Bild des literarischen Lebens in Deutschland.
  Reich-Ranickis Autobiographie           ist ein Epochenbuch, ist Bekenntnis und Darstellung in einem, es ist auch           ein Entwicklungsroman, eine zeitkritische Chronik und zugleich die Geschichte           einer Ehe. Es ist ein Buch über die Literatur und nicht zuletzt über           die Liebe. Ob der Autor es wollte oder nicht, es ist ein Deutschlandbuch           geworden, geschrieben von einem, der nicht ohne Trotz erklärt: "           Wohin ich kam, da war deutsche Literatur."