header

Interviews

Tendenzen Gespräch

Prof. Dr. Michael Stürmer, Erlangen / Berlin

Stuermer

Michael Stürmer , geboren 1939 in Kassel, ist seit 1973 ord. Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; 1988 bis 1998 war er Direktor des Forschungsinstituts für Internationale Politik und Sicherheit (Stiftung Wissenschaft und Politik) in Ebenhausen; daneben lehrte er als Gastprofessor in Harward, Princeton, Toronto, an der Sorbonne und an der School for Advanced International Studies in Bologna. Er ist außerdem Kolumnist führender internationaler Blätter ("Neue Zürcher Zeitung", "Financial Times") und seit 1998 für DIE WELT und WELT am SONNTAG tätig.









"Die Kirchen reagieren hilflos und verstärken die deutsche Desorientierung!"

Der bekannte Historiker Dr. Michael Stürmer (Erlangen/Berlin) über die aktuelle europäische, weltliche und religiöse Lage nach dem Irak-Krieg, die Rolle des Papstes und die Geschichtszäsur "Nine/Eleven"
Ranicki

Professor Michael Stürmer im Gespräch mit A.Schosch. Foto: Christian Waedt, Uni Erlangen

TENDENZEN: Noch bevor der Einmarsch in den Irak erfolgte, landete Saddam Hussein zwei kapitale Treffer: Er spaltete Europa nicht nur untereinander sondern auch von Amerika ab und er legte die UNO lahm. Ist also beispielsweise die "Einheit der Europäer" ebenso eine Illusion wie die Einheit der Araber?

DR. MICHAEL STÜRMER: In der Tat: Der atlantische Riss geht mitten durch Europa. Da sind die Atlantiker, geführt von Großbritannien auf der einen Seite, auf der anderen, geführt von Paris, die Anti-Amerikaner - die allerdings darüber hinaus wenig verbindet. Saddam Hussein war nicht Ursache des Konflikts, sondern hat ihn nur zum Ausbruch gebracht. Im Übrigen können Paris und Berlin sich nur wenig aufeinander verlassen. Es ist eine unwahrscheinliche Ehe.

TENDENZEN: Angesichts der aktuellen Ereignisse bekommt eine alte Prophezeiung aus dem biblischen Buch Daniel, Kapitel 2 sonderbare Bedeutung, denn die Füße des Standbildes - teils aus Ton, teils aus Eisen - deuteten viele Theologen seit Luther als Bild für Europa, das zwar eine Form hat, aber letztlich nicht zusammen festhalten kann. Seltsam, nicht wahr?

DR. STÜRMER: Europa wird wahrscheinlich, da größer nicht immer besser ist und weil die Erweiterung die strukturellen Schwächen verschärft, nicht so bald weiter kommen, als es jetzt ist, nämlich eine Zollunion Deluxe. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik? Politische Union? Euro? Die deutsch-französischen Irrungen und Wirrungen machen die Fragezeichen nur stärker.

TENDENZEN: Ein anderer schrecklicher Diktator - Josef Stalin - soll sich über den Einfluß der römisch-katholischen Kirche abfällig mit dem Satz geäußert haben: "Wie viele Divisionen hat der Papst?" Seit einem halben Jahrhundert ist Stalin tot, seit über zehn Jahren die kommunistische Weltmacht nur noch Geschichte und die Kirche des greisen Pontifex Maximus stärker denn je. Wie schätzen Sie den Einfluß Vatikans auf die Politik und welche Rolle wird Rom in der nächsten Zeit auf der Weltbühne spielen?

DR. STÜRMER: Gewiss kann der Papst wie auch die evangelische Kirche eine moralische Rolle spielen. Aber wenn sie sich in die Politik einmischen, so müssen sie auch sich Kritik gefallen lassen. Für einen Menschenfresser wie Saddam Hussein einzutreten, ist nicht ohne moralische Last. Auch muss sich die Kirche hüten, statt den Gläubigen in den labyrinthischen Landschaften der Moderne Führung und Geleit zuzuwenden, in ernsten Fragen der Politik zu dilettieren.

TENDENZEN: Am letzten Sonntag vor dem amerikanischen Angriff auf Husseins Diktatur in Irak stemmte sich Johannes Paul II. vor den Gläubigen auf dem Petersplatz mit neuer Kraft gegen den drohenden Waffengang und rief eindringlich: "Mai, mai, mai !" - "Niemals, niemals, niemals !". Das Treffen von Putin, Chirac und Schröder blieb dagegen blaß. Wächst künftig in Rom für die alleine verbliebene Supermacht USA womöglich der einzig ernsthafte Gegner?

DR. STÜRMER: Nein. Die moralische Kraft des Papstes ist eine Sache, das Taktieren der drei Staats- und Regierungschefs eine ganz andere. Sie gehorchen sehr diesseitigen Regeln und Interessen.
Im Übrigen halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass die Lehre vom gerechten Krieg auch den zurückliegenden Irak-Krieg noch einschließen kann. Allerdings nimmt der Papst Rücksicht auf die bedrängte Lage der Christen in vielen islamischen Ländern.

TENDENZEN: Der 11. September 2001 hat nicht nur USA sondern auch die Welt nachhaltig verändert. Gibt es in der Geschichte vergleichbare Beispiele? Können wir aufgrund der Vergangenheit Rückschlüsse dahingehend ziehen, wie es in den nächsten drei bis fünf Jahren mit der Welt und mit uns Deutschen politisch und religiös weitergehen wird?

DR. STÜRMER: Vor Prognosen soll man sich hüten, hat Mark Twain gesagt, "besonders solchen über die Zukunft". Der 11. September ist ein Zeitenbruch, wie zuvor der 9. November, wo sich der Gesamtzustand der Welt ändert und die Ideen sich neu zueinander stellen - aber nicht notwendigerweise klären. Für die USA ist "Nine/Eleven" der Beginn eines langen Krieges ohne Fronten, für Europa großenteils ein Zuschauersport. Wenn aber die Analyse soweit auseinandergeht, kann die Strategie nicht zusammenführen. Die Kirchen reagieren hilflos und statt die neue Lebensform im Schatten des Terrors zu erklären, wenden sie sich gegen die Verteidigung und verstärken in Deutschland jene Desorientierung, die aus alter Weltvergessenheit und neuem Anti-Amerikanismus, Pazifismus und politischer Rechthaberei entsteht.

Buchtipp:

Menschenwerdung der Mächtigen

Deutschlands einflussreichster Kolumnist Mainhardt Graf von Nayhauß plaudert aus Kanzlers Nähkästchen

Joachim Fest

Michael Stürmer
Das Jahrhundert der Deutschen

Goldmann Taschenbuch
München, 2002

€ 14,--

ISBN : 3-442-15145-7

Michael Stürmer beschreibt in einem Standardwerk zur deutschen Geschichte ein wechselvolles 20. Jahrhundert der Deutschen bis zum Fall der Mauer. Die Abdankung Bismarcks, die fortschreitende Industrialisierung, der Erste Weltkrieg, die Weimarer Republik, Hitlers Aufstieg und Fall, der Zweite Weltkrieg, der Neubeginn in zwei getrennten Staaten, ihre unterschiedliche Entwicklung und schließlich die Wiedervereinigung - Michael Stürmer beschreibt ein dramatisches Jahrhundert, illustriert durch eine reiche Bildauswahl, darunter viele seltene Fotos in ausgezeichneter Qualität. Er zeichnet die Zusammenhänge auf, verschafft einen Überblick, nicht nur über die großen politischen Ereignisse, sondern gerade auch über das Alltagsleben und veranschaulicht Kunst, Kultur und Wirtschaftsleben. Historische Fakten verbindet er mit einzelnen Momentaufnahmen, die Befindlichkeit und Lebensumstände der Bevölkerung illustrieren. Immer aus der Perspektive deutscher Geschichte geschrieben, verliert Stürmer doch nie die internationalen Zusammenhänge jeder Epoche aus den Augen.

Zitate

"Macht Lust, sich noch intensiver mit der Geschichte dieses Landes zu beschäftigen" Handelsblatt
"Glänzende Bildauswahl" Münchner Merkur

Home | Impressum | Haftung