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Interviews

Tendenzen Gespräch

Walter Leisler Kiep, Frankfurt

"Die Bundesrepublik wird nie mehr das sein, was sie einmal war!"

TENDENZEN: Herr Kiep, jahrzehntelang haben Sie mit Ihren politischen Freunden auf das eine Ziel hingearbeitet - Wiedervereinigung unseres deutschen Vaterlandes. Was sind jetzt - im Jahre fünf nach dem Fall der Mauer - Ihre Empfindungen und Sorgen?

Kiep: Im Gegensatz zu Ihnen will ich dieses große Geschenk, diese Sternstunde in unserer Geschichte, nicht Wiedervereinigung, sondern richtigerweise schlicht Vereinigung nennen. Der Ausdruck Wiedervereinigung birgt in sich die Gefahr, daß man die Sache zu leicht nimmt! Es ist mitnichten so, als ob man vor 40 oder 50 Jahren einen Motor sauber auseinandergenommen und sorgfältig in Ölpapier verpackt gelagert hätte und man ihn jetzt einfach wieder zusammensetzen, Benzin und Öl hinzuzufügen bräuchte, und er läuft wieder. Ich glaube, der Vorgang ist etwas schwieriger, weil in 40 Jahren - und das ist eine ganze Generation! - Veränderungen im Denken, Fühlen und Handeln eintreten, wenn Menschen unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen unterworfen sind. Es wird schon etwas länger dauern, möglicherweise länger als die materielle Vereinigung, bis die Vereinigung auch auf den eben genannten Gebieten vollzogen sein wird.

TENDENZEN: Welche Hindernisse müssen auf diesem Weg noch überwunden werden?

Kiep: Meiner Meinung nach - und ich habe sie mir aus und nach vielen Gesprächen mit den Menschen in den neuen Ländern bilden können - liegt das Hauptproblem in unserem Denken. Es ist nicht so, wie viele vereinfacht glauben, daß die neuen Bundesländer und die dort lebenden Menschen lediglich ein Teil der alten Bundesrepublik werden können. Das vereinigte Deutschland ist viel mehr und vor allem etwas anders als eine etwas größer gewordene Bundesrepublik! Die Menschen in den neuen Ländern müssen sich mit ihrer Erfahrung, mit ihrer Geschichte und ihrer Arbeit in unserem neuen Staat wiederfinden. Das ist eine sehr schwierige Aufgabe. Neulich sagte jemand bei einem Gespräch, das ich drüben führte, "Ach, das ich doch einmal erlebe, daß ein Westdeutscher nicht das letzte Wort haben muß!". An diesem Satz wird deutlich, daß zur Vollendung der Einheit noch ein großes Stück Arbeit vor uns liegt.

TENDENZEN: Jahrzehntelang waren die gesellschaftspolitischen Koordinaten vom Ost-West Konflikt bestimmt. Der "eiserne Vorhang" (Churchill) fiel über Nacht, und der freie Blick auf die Bühne unseres Gemeinwesens offenbarte Erschreckendes: Auf sehr vielen Feldern in Staat und Gesellschaft herrschen offenbar Orientierungs- und Ratlosigkeit. Der zum Mythos gewordene US-Präsident Kennedy gab der Jugend seiner Generation eine Vision. Welche Orientierung, welche Vision würden Sie den Menschen im vereinten Deutschland heute geben?

Kiep: Ihre Frage trifft den Kern des Problems! Wir haben in Westdeutschland in einer beispiellosen Leistung aus den Trümmern einen ungewöhnlich erfolgreichen und gut funktionierenden Staat aufgebaut. Dies hat jedoch - und dies merken wir leider erst jetzt - ein großes Maß an Individualisierung mit sich gebracht. Doch damit ging und geht ein Verlust an Solidarität einher. Ich kann es auch krasser formulieren: Wir haben die Solidarität privatisiert! Hier müssen wir ansetzen. Das ist die wahre Herausforderung des nächsten Jahrzehnts: Der Wiederaufbau der Solidarität untereinander in den Familien, Firmen, Gemeinden, Städten usw. Wir brauchen diese Solidarität aller Menschen, wenn wir überhaupt eine Chance haben wollen, die komplexen Aufgaben, die vor uns stehen zu lösen. Ich bin überzeugt davon, daß sich die Probleme und Prioritäten, vor denen wir in den nächsten zehn Jahren in Deutschland stehen werden, fundamental von allem unterscheiden werden, was bisher war. Andersherum gesagt: Die Bundesrepublik wird nie mehr das sein, was sie einmal war! Wir bauen jetzt an einem neuen Staat und an einer neuen Gesellschaft. Diese stellen uns vor neue Anforderungen, vor eine neue Standortbestimmung, und fordern von uns eine grenzüberschreitende Solidarität. Jeder Bürger ist aufgefordert, seinen Beitrag zu einem neuen Gefühl und Verhältnis zur Gesellschaft, zur Gemeinschaft und zum Staat zu leisten. Dies wird ohne eine Wiedergeburt des Solidaritätsgefühls der Menschen zueinander über Klassen- und sonstige Grenzen hinweg gar nicht möglich sein.

TENDENZEN: Sie entwickeln hier eine Vision für das Volk, aber wo sind die Visionäre in der Politik?

Kiep: >Sie haben recht: Wir brauchen auch für die Politik eine Vision, weil wir mitten in einer Entwicklung stecken bzw. eine Veränderung der Welt erleben, die in sehr kurzer Zeit vonstatten geht und in der jüngsten Menschheitsgeschichte ohne Beispiel ist. Alle Prioritäten müssen neu überdacht werden, alles muß auf den Prüfstand. Die Aufgabe der Politik geht aber über das Beschreiben dieser Vision weit hinaus. Die Politik muß Rahmenbedingungen schaffen, in denen die Verwirklichung dieser visionären Ziele realistisch erreicht werden kann. Hier liegt eine große Herausforderung an uns alle, egal, wo wir stehen. Die chronische Krankheit der Politik aber ist, daß sie von der Hand in den Mund lebt. Mancher Politiker hat montags nur eine Sorge: Wie erlebe ich den Freitag intakt? Da bleibt für Visionen wenig Zeit. Hier hat das "quaterly thinking" aus der amerikanischen Wirtschaft einen negativen Einfluß. Politiker denken nicht mehr in Jahren oder gar Jahrzehnten, sondern in viel kürzeren Abständen, im Extremfall gar nur von einer Wahl zur anderen, und in irgendeinem Bundesland sind immer Wahlen. Zugegeben: Ich hatte etwas naiv gedacht, daß im Vorfeld des letzten Bundestagswahlkampfes angesichts der Probleme, vor denen wir stehen, ein Ideenwettbewerb zum Beispiel zum Thema "Wie beseitigen wir gemeinsam in kürzester Zeit die Arbeitslosigkeit" über Parteigrenzen hinweg stattfinden könnte. Nichts dergleichen.

TENDENZEN: Welche Rolle spielen die Kirchen bei der Lösung dieser Probleme?

Kiep: Das ist eine schwierige Frage, und ich möchte nicht, daß meine Antwort nur kritisch ausfällt. Die Kirchen sollten sich wieder verstärkt ihren originären Aufgaben widmen, nämlich, den Menschen ein Fundament über den Tag, für das Leben und über das Leben hinaus zu vermitteln. Natürlich sollen sich die Kirchen zu gesellschaftlichen Problemen äußern, aber ihr Hauptziel muß die Vermittlung des Glaubens und die Begegnung mit Gott sein. Ein christliches Glaubensfundament trägt mit Sicherheit zum Engagement des einzelnen in der Gesellschaft und zu einem ausgeprägten grenzüberschreitenden Solidaritätsverhalten bei. Die Verwirrung der Werte ist ein Thema, mit dem die Kirchen fertigzuwerden versuchen und nach meiner Überzeugung noch nicht annähernd fertiggeworden sind.

TENDENZEN: Und die Folgen...

Kiep: ... sind abenteuerlich bis schrecklich, wie die Ereignisse mit der Sonnentempler-Sekte in der Schweiz oder in Waco in Texas bezeugen. All das zeigt, daß hier etwas ist, was die Menschen erwarten, wonach sie sich sehnen, was sie erhoffen. Es scheint so, als ob es der Kirche allegemein schwer fällt, dies zu vermitteln. Das hängt auch mit ihrer Geschichte zusammen. Hier ist ein ganz wichtiger Punkt von Ihnen angesprochen, aber auch ich habe keine Patentantwort. Ich kann nur den Bedarf bestätigen, der Ihrer Frage zugrunde liegt.

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