Claus Jacobi, 71, war bis Ende 1998 Herausgeber von "Welt am Sonntag". Jeden Samstag veröffentlicht er eine Kolumne in der Bild-Zeitung. Ausgewählte veröffentlicht TENDENZEN mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.
 
  Claus Jacobi, 71, war bis Ende 1998 Herausgeber von "Welt am Sonntag". Jeden Samstag veröffentlicht er eine Kolumne in der Bild-Zeitung. Ausgewählte veröffentlicht TENDENZEN mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.
Schon gut 50 Jahre sind   			es her, daß drei Herren im Abendanzug im Lesesalon von Londons "Claridge's" einen   			Nightcup nahmen. Sie waren kurz vor Mitternacht vom Dinner mit Winston Churchill in   			Downing Street 10 gekommen und hatten sich in einer Ecke niedergelassen, in der   			Iraks jüngster König Faisal II. nachmittags seinen Tee zu nehmen pflegte: Kanzler   			Konrad Adenauer, der holländische Außenminister Spaak und Luxenburg Ministerpräsident Bech. 
        
      Hinter einer Säule, keine drei Meter von ihnen entfernt, las mein Freund Lothar Ruehl,   			damals SPIEGEL-Korrespondent und später Staatssekretär im Verteidigungsministerium,   			gerade Zeitungen. Nun bestellte er noch ein "Perrier" (Alkohol durfte im "Claridge's"   			nach elf Uhr abends nur an Hausgäste ausgeschenkt werden) und wurde Ohrenzeuge eines   			historischen Gesprächs, dessen wichtigste Passagen er notierte und teilweise   			veröffentlichte. 
  
      Adenauer war erfüllt von tiefer Sorge über Europas nur schleppend vorankommende   			Einheit und die Zukunft des geteilten Deutschlands. Dabei quälte den 78jährigen   			das Wissen um die begrenzte Frist, die ihm blieb, Weichen für beides zu stellen.   			"Nutzen Sie die Zeit, solange ich noch lebe", beschwor er seine Verbündeten, "wenn   			ich nicht mehr bin, ist es zu spät - mein Gott ..." Dann noch einmal, noch eindringlicher:   			"Wenn ich einmal nicht mehr da bin, weiß ich nicht, was aus Deutschland werden soll ..." 
  
      Und was ist aus Deutschland geworden? Ein halbes Jahrhundert nach dem Gespräch   			im Herbst 1954 scheint keine schlechte Zeit für einen Blick zurück. Unsere Welt   			hat sich verändert, wie wohl auch Adenauer es sich kaum hätte vorstellen können.   			Fortschrittliches Wachstum überall. Damals gab es bei uns 1,4 Millionen Arbeitslose,   			heute sind es 4,3 Millionen - mehr als dreimal soviel. Aus 455.675 Ausländer wurden   			7,3 Millionen - mehr als sechzehnmal soviel. Und das Durschnittseinkommen stieg   			umgerechnet von 164 Euro im Monat aus 2.230 Euro - nominell das Dreizehnfache   			(ohne daß die Menschen erkennbar glücklicher geworden wären). 
  
      Die äußeren Gefahren, die Adenauer so sehr fürchtete, zerplatzten wie eine Nova   			in der Milchstraße. DDR und das "Reich des Bösen" verschwanden im Orkus der Geschichte.   			Europa rückte zusammen. Im deutschen Gemeinwesen aber wurde so manches morsch, so   			manches morbide. Selbstsucht und Habsucht regieren. Geld ist Götze. Moral und   			Anstand, der liebe Gott und die Familie sind vierspännig auf dem Rückzug. Der   			Gemeinsinn welkte. Lieb Vaterland, magst unruhig sein. 
  
      Mitternacht war vorüber, die Geisterstunde angebrochen, der Whisky-Soda schal,   			als Konrad Adenauer in der viktorianischen Salonecke schließlich verstummte.   			Bedrücktes Schweigen lag über seiner Runde, bis ein Ober die Stille unterbrach:   			"More ice, gentlemen?" 
  
    Inzwischen bedeckt die drei aus "Claridge's" längst kühler Rasen. Schade oder   			Gnade, daß "der Alte" aus Rhöndorf nie erfuhr, was nach ihm aus Deutschland wurde. 
Claus Jacobi

Claus Jacobi
    Von Glück, Gespenstern und dem Geheimnis des Lebens 
    
    Denkanstösse über den Tag hinaus
    
    208 Seiten, gebunden
    
    Goldmann Taschenbuch 
    
    
    29,80 DM
    
    
    ISBN : 3-7766-2074-9
    
  
Eine Auswahl von 78 Kolumnen, die Claus Jacobi in den letzten Jahren veröffentlicht hat, ist jetzt zum ersten Mal als unter Von Glück, Gespenstern und dem Gehiemnis des Lebens erschienen. Es sind Glanzstücke des deutschen Journalismus. Jacobi liebt Geschichte und Geschichten. "Political correctness" läßt ihn "kalt wie der Kuß einer Tante". Und er ist überzeugt: "Wenn Heuchelei dick machen würde, bräuchten unsere Parlamente Flügeltüren".