Gernot Facius, 1942 in Karlsbad (Sudetenland) geboren, arbeitet von   							Bonn aus als Korrespondent der überregionalen Tageszeitung DIE WELT,   							vornehmlich für den Bereich Religion und Gesellschaft. Der Katholik   							gilt als guter Kenner der Verhältnisse und Tendenzen in beiden Großkirchen   							sowie der Strömungen im Islam in Deutschland. Für seine Berichterstattung   							und Kommentierung wurde er von der Konferenz Evangelikaler Publizisten   							(KEP) im Jahr 2000 mit dem "Goldenen Kompass" ausgezeichnet. Gernot   							Facius, mehrere Jahre auch Stellvertretender Chefredakteur der WELT,   							deren Redaktion er seit 1976 angehört, hat sich auch als Herausgeber   							und Autor medienpolitischer Publikationen einen Namen gemacht. Er ist   							Mitglied der Jury des Theodor-Wolff-Preises, des Journalistenpreises der  							deutschen Tageszeitungen, und des Katholischen Medienpreises.
   
  
  
    
    TENDENZEN: Europa hat sich nach dem 2. Weltkrieg stets über die Wirtschaft formiert und   				definiert - zuerst die Montan-Union, dann EWG, dann "Die 12" und nun eine   				Verdoppelung der Mitgliedstaaten. Ist der abendländisch-christliche Geist   				auf der Strecke geblieben? Jetzt gibt es nicht einmal einen Gottesbezug in   				der ersten europäischen Verfassung und die Klagen scheinen nur fürs Protokoll   				zu sein. Warum gibt es keinen Sturm der Entrüstung?
    GERNOT FACIUS: Es ist bedauerlich, dass die Bemühungen um einen "Gottesbezug" in der Europäischen   				Verfassung gescheitert sind. Stattdessen werden in der Präambel "die kulturellen,   				religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas" gewürdigt. Eine sehr   				schwammige Beschreibung. Doch ehe wir uns darüber laut entrüsten, sollten wir   				schon etwas genauer hinsehen. "Gottesbezug" und Nennung des Christentums als   				Bestandteil der europäischen Geschichte sind unterschiedliche Dinge. Für einen   				Gottesbezug hatten sich zum Beispiel die Kirchen in Deutschland stark gemacht,   				die entsprechende Präambel des Grundgesetzes vor Augen: "Im Bewusstsein der   				Verantwortung vor Gott und den Menschen..." Gott wird hier nicht konfessionell   				definiert, der Gott der Christen bekommt, salopp gesagt, kein Monopol. Wir haben   				es mit einem Transzedenzbezug zu tun - als moralisches Bollwerk gegen staatliche   				oder gesellschaftliche Allmachtsansprüche und Allmachtsphantasien. Der Vatikan   				hingegen brachte die (weitergehende) Formulierung vom "christlichen Erbe" ins   				Spiel. Er tritt seit Jahren für eine "Neuevangelisierung" Europas ein. Damit hat   				er vermutlich, um ein Wort von Hans Küng aufzugreifen, säkularistische Fundamentalisten   				französischer der belgischer Prägung sowie alle anderen, die der römischen Kirche   				und ihrer Lehre mit Misstrauen begegnen, im Widerstand bestärkt. Warum wohl? Der   				päpstliche Wunsch nach "Neuevangelisierung" wird oft als Versuch einer Rekatholisierung   				gedeutet. Zu Recht oder zu Unrecht, das sei dahingestellt. Jedenfalls gibt es genug   				Stimmen, die sagen: Unter einem Papst Johannes XXIII. wären die Chancen größer   				gewesen, Gott in die Präambel zu bekommen.
    TENDENZEN: Die soziale Kälte in der immer rauhen Ellenbogen-Gesellschaft geht einher mit immer   				stärker werdenden Individualisierung des Lebens. Die Privatisierung der Medien   				beispielsweise brachte ohne Zweifel ein Absinken der Moralmaßstäbe mit sich und   				im Gegenzug eine Steigerung der Einschaltquoten und der Werbeeinnahmen. "Brot   				und Spiele" läuteten regelmäßig die Endzeit vieler Kulturen und Gesellschaften   				in der bisherigen Menschheitsgeschichte ein. Sollen wir uns auf einen Untergang   				einstellen?
    FACIUS: Ich bin kein Untergangsprophet. Deshalb gehe ich etwas gelassen an ihre Frage   				heran. Die Entfaltung eines dualen Rundfunk- und Fernsehsystems, also das   				Hinzutreten der Privaten zu den öffentlich-rechtlichen Anstalten, hat zunächst   				einmal etwas Positives bewirkt: ARD und ZDF verloren ihre Alleinstellung, der   				Bildschirm wurde entautorisiert, das tat der Meinungsvielfalt gut. Natürlich   				hat Privatisierung, sagen wir besser: Kommerzialisierung, auch eine hässliche   				Seite. Unter dem Quotendruck sinkt die Qualität, kommen auch Moralmaßstäbe ins   				Rutschen, da gebe ich Ihnen Recht. Selbst das vermeintlich hehre und gute   				Öffentlich-Rechtliche ist längst in den Kommerzstrudel geraten, passt sich dem   				entfesselten, enthemmten Boulevard an, auf dem die Menschenwürde auf der Strecke   				bleibt. Brot und Spiele, Endzeit? Nein! Sie mögen mich einen unverbesserlichen   				Optimisten nennen: Das Pendel wird wieder zurückschwingen. Die Menschen werden   				eines Tages genug haben von egoistischem Amüsement, eitler Selbstdarstellung und   				perfider Intimsphärenschnüffelei. Dass die Auflagen der wüstesten Revolverblätter   				sinken, deutet schon in diese Richtung. Und trotz aller Individualisierung gibt es   				Hinweise auf ein ungebrochenes bürgerschaftliches Engagement. Denken Sie doch nur   				an den Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden in einer Stadt und einer Region,   				in der die Christen in der Minderheit sind. Ist das nicht ein Indiz für die   				Sehnsucht nach Symbolen, an die man sich halten kann?
    TENDENZEN: Die Aufklärung in der europäischen Kulturgeschichte brachte eine Liberalisierung   				vieler Lebensräume und Denkschemata  mit sich, darunter auch die Bereiche Religion   				und Glaube. Viele in der nicht nur arabischen Welt, die keine derartige Entwicklung   				durchlief, sehen hier eine Überlegenheit des Islams und leben ziemlich brutal einen   				Religions-Darwinismus vor - die stärkere Religion wird sich durchsetzen. Was ist zu tun?
    FACIUS: Was heißt ‚stärkere Religion'? Das wird man erst noch definieren müssen. Wir sollten   				nicht vorschnell von einer Überlegenheit des Islam reden, das wäre meines Erachtens   				zu defensiv gedacht. Ob eine Religion, die von ihrem Ansatz her die totale   				Unterwerfung der Menschen unter ein starres Gedankengebäude verlangt, die die   				Menschenrechte nur im Rahmen ihres Gottesbildes akzeptiert, in einer ausdifferenzierten   				globalen Welt mit allen Vergleichsmöglichkeiten auf Dauer "stark" sein kann, dahinter   				möchte ich doch ein dickes Fragezeichen setzen. Die Freiheit des Christenmenschen,   				nach intensiver Prüfung seines Gewissens eine Entscheidung zu fällen, die so oder   				anders ausfallen kann, aber in jedem Fall verantwortet werden muss, ist neben dem   				Bekenntnis zur universalen Geltung der Menschenrechte wahrscheinlich das erfolgreichere   				Angebot auf dem Markt religiöser Möglichkeiten. Die so genannte Islamische Charta des   				Zentralrats der Muslime in Deutschland hat vor allem die Frage nach der Gleichwertigkeit   				und Gleichbehandlung von Mann und Frau nicht klar und abschließend beantwortet - in   				einer vom Streben nach Gleichberechtigung und "Emanzipation" bestimmten Welt ein das   				Misstrauen schürendes Versäumnis. Oder soll man sagen: Unvermögen? Wer würde so naiv   				sein anzunehmen, dass der Islam von heute auf morgen eine "Reformation" hervorbringt,   				seine Gestalt radikal verändert und den Anschluss an die europäische Aufklärung findet.   				Aber die permanente Berührung mit anderen Einflüssen wird auf Dauer nicht ohne   				Wirkung sein. Vorausgesetzt man fördert nicht die Bildung islamischer   				Parallelgesellschaften. Die wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen, mit denen   				wir es momentan zu tun haben und von denen insbesondere Muslime betroffen sind, sind   				ein Bremsklotz für die Integration. Wir haben also nicht nur ein religiöses, sondern   				auch ein soziales und damit auch politisches Problem. Im Vergleich dazu ist die   				leidige Kopftuchfrage von eher harmloser Natur. Nebenbei gesagt: Was ein Kopftuchverbot   				alles nach sich ziehen wird, das lässt sich noch gar nicht absehen. Wird durch solche   				Akte eine Debatte über das generelle Verbannen religiöser Symbole aus öffentlichen   				Räumen eröffnet, dann hätten christliche Politiker ein Eigentor geschossen. Die Tür   				zum Laizismus wäre aufgestoßen.
    TENDENZEN: Zum Credo der Verfassungsschutzämter gehört auch der Gedanke der "wehrhaften   				Demokratie". Sollte auch über "wehrhaftes Christentum" einmal nachgedacht werden?   				Wer soll hier die Führung übernehmen - die Kirchen oder der Staat oder beide?   				Ist die Einrichtung einer bundesweiten "Islamisten-Datei" nur der erste Schritt   				in die richtige Richtung?
    FACIUS: Bitte, lassen wir die Kirche im Dorf und in religiösen Fragen den Staat aus dem   				Spiel! Die Einrichtung einer "Islamisten-Datei" ist eine sicherheitspolitische   				Frage, über deren Nutzen und Praktikabilität man streiten kann oder sogar muss.   				Außerdem ist der Begriff "Islamist" zu unscharf. Islamist gleich potentieller   				Attentäter - geht das? Und das wehrhafte Christentum, von dem Sie sprechen?   				"Wehrhaftigkeit" lässt sich nicht herbeikommandieren. Darunter verstehe ich   				ein Christentum, das sich seiner Wurzeln bewusst ist und sich ihrer nicht   				schämt; das im Alltag glaubwürdig Zeugnis seines Glaubens ablegt und durch   				dieses Zeugnis missionarisch wirkt; das im Gespräch mit den Muslimen "auf   				Augenhöhe", um eine modische Metapher zu gebrauchen, seine ureigene Botschaft   				nicht im politisch korrekten Gesäusel "Wir-glauben-doch-alle-an-denselben-Gott"   				untergehen lässt; das den Dialog nicht um des Dialogs wegen führt, sondern den   				Mut zur Differenz aufbringt, was leider immer noch wenig geschieht. Wehrhaft   				ist das Christentum nur, wenn es von seinem Gegenüber Ernst genommen wird. Das   				schließt Kompromißlertum und Anpassung aus. Diese Wehrhaftigkeit kann den Christen   				niemand abnehmen. Sie müssen selber "führen". Alles andere wäre allerdings ein   				Armutszeugnis