
Claus Jacobi, 71, war bis Ende 1998 Herausgeber von "Welt am Sonntag". Jeden Samstag veröffentlicht er eine Kolumne in der Bild-Zeitung. Ausgewählte veröffentlicht TENDENZEN mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.
Claus Jacobi, 71, war bis Ende 1998 Herausgeber von "Welt am Sonntag". Jeden Samstag veröffentlicht er eine Kolumne in der Bild-Zeitung. Ausgewählte veröffentlicht TENDENZEN mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.
Claus Jacobi lud A. Schosch in sein
Büro bei der BILD-Zeitung im
Hamburger Axel-Springer-Haus ein.
Foto: BILD-Zeitung
TENDENZEN: Herr Jacobi, Sie haben wie gerade noch eine Handvoll anderer Journalisten das Werden, Wachsen und Vergehen der Bundesrepublik Deutschland über Jahrzehnte miterlebt. Ohne mit verklärtem Blick in Nostalgie zu schwelgen - was ist heute besser und was schlechter im Alltag des berühmten kleinen Mannes auf der Straße?
JACOBI: Fortschritte im Alltag gab's für den Einzelnen durch Medizin und Technik, Wissenschaft und Wohlstand. Die Bürger werden älter, die Autos fahren schneller, der Lebensstandard stieg. Mallorca wurde Bundesland. Geld kommt aus dem Automaten. Erdbeeren sind auch im Winter zu haben. Computer, Internet und Handy erleichtern das Leben. Solchen Siegen im materiellen Sektor stehen Niederlagen im menschlichen Bereich gegenüber. Die Moral leidet an Immunschwäche, die Sitten verrohen, Tugend ade. Korruption blüht, Anstand welkt. Neid, Gier und Unzufriedenheit machen sich breit. Die Familie verliert an Bedeutung. Immer mehr Kinder kennen wie Schildkröten ihren Vater nicht mehr. Lust verdrängt Liebe. Mitglieder unserer Elite wurden mit Koks und Huren erwischt. Dummheit wabert durch Politik und Schulen. Die schönen Künste werden immer obszöner, die Medien immer ordinärer. "Big Brother" ist überall.
TENDENZEN: Helmut Kohl hat zu Beginn seiner Kanzlerschaft eine "geistig-moralische Wende" gefordert, der amtierender Bundeskanzler Schröder rief die "Anständigen" zu mehr Engagement in Staat und Gesellschaft auf und Roman Herzogs berühmte "Ruck-Rede" waren sehr deutliche Worte eines Bundespräsidenten. Was ist daraus geworden? Waren es nur "Sprechblasen"?
JACOBI: Ja - gut gemeint aber wirkungslos. Denn unsere politische Klasse besitzt kaum noch natürliche Autorität. Die Menschen glauben ihr nur bedingt, vertrauen ihr wenig, stellen ihre Ohren auf Durchzug, wenn große Worte ertönen, besonders wenn Opfer und Engagement für andere verlangt werden. Opferbereitschaft hat in Deutschland nicht gerade Saison.
TENDENZEN: In Ihrem Aufsatz "Ist der Anstand ausgestorben?" schreiben Sie auch die Sätze: "Die Wurzel des Übels: Wir haben keine moralische Instanzen mehr, die allgemein anerkannt werden und uns verbindlich lehren, was richtig und was falsch ist. Der Einfluss der Kirchen nimmt ab." Warum nahm Ihrer Meinung nach der Einfluß der Kirchen ab?
JACOBI: Natürlich ist das Bodenpersonal des lieben Gottes daran nicht ganz unschuldig. So manche Geistliche, vor allem Protestanten, kümmern sich zuviel um Politik, zu wenig um Seelen und schwätzen oft wie Volksvertreter. Wie die Hirten, so die Herde. Zu viele Schäfchen tanzen um das Goldene Kalb, oft wird Geld für Glück gehalten. Materialismus und Selbstsucht sind die mächtigsten Schubkräfte unserer Gesellschaft geworden. Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst? Selten so gelacht. Das eigene Wohlergehen ist für die meisten der höchste Wert. Da hat's der Glaube schwer.
TENDENZEN: Deutschland hat längst nicht mehr die Führungsrolle in Europa, die die alte Bundesrepublik einmal hatte. Warum? Fehlt ein John F. Kennedy, der die derzeitige junge Generation mit dem Satz mitreissen würde: "Fragt nicht, was Deutschland für euch tun kann, sondern was ihr für Deutschland tun könnt!"? Womit ließe sich die "Generation kann nix", wie DIE WELT unlängst titulierte, überhaupt noch begeistern?
JACOBI: Deutschland hat seine Führungsrolle in Europa eingebüßt, weil wir unsere wirtschaftliche Kraft einbüßten. Wir haben einen Wohlfahrtsstaat geschaffen, den wir nicht bezahlen können. Jahrelang haben wir über unsere Verhältnisse gelebt. Das geht in keiner Familie gut, das geht auch in keinem Staat gut. Daß die Generation, der jetzt die Rechnung präsentiert wird, sich noch für irgend etwas begeistern läßt, halte ich für wenig wahrscheinlich. Wenn es ihr gelingt, sich wie Baron Münchhausen am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen, wäre es schon viel. Einstweilen scheint sie selbst dafür nicht allzu bereit. Es muß wohl erst noch schlechter werden, ehe es besser werden kann.
TENDENZEN: Im Zuge der Verschärfung der Gesetze im Nachgang der Terroranschläge in New York am 11. September 2001 und in der Folge weltweit, wurden und werden viele bürgerliche Freiheiten eingeschränkt. Was kommt womöglich noch auf uns zu, wenn amerkanisches Lamm plötzlich zu feuerspeiendem Drachen mutieren soll?
JACOBI: In meiner Jugend hätte ich mir nicht träumen lassen, daß eines Tages fremde Herren meine Hosenbeine abtasten, ehe ich in ein Flugzeug steigen darf. Schnell hat man sich daran gewöhnt. Auch gewisse Einschränkungen seiner bürgerlichen Freiheit dürfte der Einzelne unschwer hinnehmen, wenn dadurch seine Chance wächst, nicht in die Luft zu fliegen. Die Welt aber wird im Zeitalter des Terrors noch ganz andere Veränderungen erleben. "Wer den Tod liebt, kann ihn haben," hat Innenminister Schily angekündigt. Die Tötung der beiden Hamas-Führer durch israelische Raketen, die Todesdrohung gegen Arafat und die Militärschläge der USA in Afghanistan und Irak lassen ahnen, in welche Richtung die Reise führt. Drahtzieher des Terrors werden immer in fremdem Terrain sitzen. Wer sie nicht nur mit Worten bekämpft, wird hergebrachte Grenzen hinter sich lassen.
Claus Jacobi
Von Glück, Gespenstern und dem Geheimnis des Lebens
Denkanstösse über den Tag hinaus
208 Seiten, gebunden
Goldmann Taschenbuch
29,80 DM
ISBN : 3-7766-2074-9
Eine Auswahl von 78 Kolumnen, die Claus Jacobi in den letzten Jahren veröffentlicht hat, ist jetzt zum ersten Mal als unter Von Glück, Gespenstern und dem Gehiemnis des Lebens erschienen. Es sind Glanzstücke des deutschen Journalismus. Jacobi liebt Geschichte und Geschichten. "Political correctness" läßt ihn "kalt wie der Kuß einer Tante". Und er ist überzeugt: "Wenn Heuchelei dick machen würde, bräuchten unsere Parlamente Flügeltüren".