TENDENZEN: Herr Henkel, im Februar 2002 zitierte Peter Glotz in einem Essay im SPIEGEL Prof. Ralf Dahrendorf mit dem Satz: "Für die Hightech-Ökonomie und ihr Wachstum ist die Mehrheit der Arbeitsfähigen entbehrlich". Glotz stimmt dem im Kern zu und führt Trendforscher Matthias Horx als Zeugen an, der sagt: "Unsere Gesellschaft wird sich den Luxus von 20 Prozent ausrangierten leisten,...". Ein Jahr später veröffentlicht der (inzwischen) Ex-Chef der Bundesagentur für Arbeit, Florian Gerster, ein Buch mit dem Titel: "Arbeit ist für alle da. Neue Wege in die Vollbeschäftigung". Was nun?
HENKEL: Ich schätze Ralf Dahrendorf natürlich sehr, er war immerhin mein Soziologieprofessor in Hamburg, und auch Peter Glotz ist immer hochinteressant, aber in diesem Fall halte ich es doch lieber mit Florian Gerster. Denn Gerster hat recht, Arbeit ist in der Tat für alle da, sie muss nur erschwinglich sein. Viele Beispiele in anderen Ländern zeigen uns, dass in Volkswirtschaften mit durchaus hohem Anspruch, wie z.B. Schweden, Dänemark, Finnland, den Vereinigten Staaten oder Großbritannien, es Arbeit auch für weniger Qualifizierte gibt.
TENDENZEN: Fällt das hierzulande niemanden auf?
HENKEL: Doch, doch, auch in Deutschland wird dies schon längst wahrgenommen. Wir wissen, dass ca. 15 Prozent der gesamten in Deutschland geleisteten Arbeit Schwarzarbeit sind. Übrigens, da sie Florian Gerster, den (inzwischen ehemaligen) Chef der Bundesanstalt für Arbeit zitieren, wissen Sie, dass wir vor genau 40 Jahren weniger Arbeitslose in Deutschland hatten, als Florian Gerster heute Mitarbeiter in seiner Behörde beschäftigt.
TENDENZEN: Auf der Rückseite Ihres Buches "Ethik des Erfolgs" wird quasi als Credo postuliert: "Wie Marktwirtschaft und freier Informationsfluss zugleich Demokratie und Menschenrechte verbreiten, so bietet sich mit der Globalisierung erstmals die Chance für eine weltweit gültige Ethik". Klingt gut, aber was machen die Verlierer der Globalisierung? Was dann, wenn - wie beispielsweise aktuell in Irak - die Mehrheit der Menschen die Demokratisierung nach unserem Vorbild nicht will und die Menschenrechte nur auf der Basis der Scharia, dem islamischen Recht, definiert?
HENKEL: Ich bin fest davon überzeugt, dass nach Renaissance und Aufklärung und der Erklärung der Menschenrechte im Zusammenhang der französischen Revolution die Globalisierung tatsächlich das Beste ist, was der Menschheit zugestoßen ist. Es sind ja nicht nur Waren, Dienstleistungen, Investitionen und Geldströme, die im Zuge der Globalisierung durch die Welt gehen, sondern es gehen auch Werte um die Welt. Ich nenne das immer: das "Sympathische Dreieck" aus Markwirtschaft, Menschenrechten und Demokratie. Alle drei sind im Zuge der Globalisierung um die Welt gegangen.
TENDENZEN: Mit eher mäßigem Erfolg...
HENKEL: Aber nein, eher mit durchschlagendem Erfolg! Nehmen sie den südamerikanischen Subkontinent einmal als Beispiel. Vor 30/40 Jahren regierten dort Generäle, Obristen und Diktatoren, und heute, mit einer Ausnahme, sind das Demokratien. Die Ausnahme ist natürlich Kuba mit Fidel Castro. Klar, beim Thema Menschenrechte gibt es in Südamerika noch Nachholbedarf, aber der Fortschritt ist doch nicht abzustreiten. Oder denken sie an Südkorea, der vorletzte Präsident saß vor 25 Jahren in Südkorea zum Tode verurteilt im Knast. Heute ist Südkorea eine lupenreine Demokratie. Die Menschenrechte werden geachtet, die Gewerkschaften sind längst zugelassen.
TENDENZEN: Welche Beziehung besteht zwischen einer demokratischen Gesellschaftsordnung und der Marktwirtschaft?
HENKEL: Ich kenne keine Demokratie ohne Marktwirtschaft. Und umgekehrt gilt das im zunehmenden Maße auch. Nehmen sie das Beispiel Südafrika. Sie können heute von dem Staatspräsidenten Mbeki, den ich gut kenne, oder von Nelson Mandela hören, dass nach deren Überzeugung auch die multinationalen Unternehmen, die dort während der Apartheid tätig waren, im Grunde dieses Regime von innen ausgehöhlt haben. Ich selbst war damals von Paris aus verantwortlich für die IBM in Südafrika, und wir haben bewusst die Rassengesetze durchbrochen und dafür gesorgt, dass innerhalb der IBM eine Rassentrennung nicht stattfand, und das hat sich auch auf andere Lebensbereiche Südafrikas ausgewirkt. Heute bedankt sich Mbeki beim Daimler-Chrysler-Chef dafür, dass Daimler-Chrysler oder Daimler-Benz, wie es damals hieß, in der Zeit auch im Land geblieben ist.
TENDENZEN: Viele, die sich als die Verlierer der Globalisierung sehen, finden Ihr Hochlied auf die Globalisierung nicht nachsingenswert, nicht wahr?
HENKEL: Natürlich kann man die Frage stellen, was ist mit den Verlierern? Wissen Sie, ich erkenne keine. Es gibt gewisse Kreise, die etwas hochspielen, was es so nicht gibt. Sicherlich gibt es Staaten, Gesellschaften und Volkswirtschaften, die der globalen Entwicklung hinterher hinken und die sich im Augenblick noch als benachteiligt sehen. Bei Ihrer Frage denkt man aber meiner Meinung nach an die falschen. So denkt man beispielsweise an den afrikanischen Kontinent. Zweifellos geht es diesem Kontinent nicht gut, aber doch nicht aufgrund der Globalisierung. Sicherlich haben die im Verhältnis zu den Ländern, die zur globalen Industriegesellschaft gehören, "verloren". Aber sie sind doch nicht Opfer der Globalisierung, sondern sie leiden darunter, dass die Globalisierung, und mit ihr das "Sympathisches Dreieck" aus Demokratie, Marktwirtschaft und Menschenrechten, an ihnen vorbeigegangen ist.
TENDENZEN: Kein positives Beispiel in Afrika?
HENKEL: Doch, das einzig demokratisch regierte Land in Afrika ist heute Südafrika. Und in keinem schwarzafrikanischen Land gibt es die Marktwirtschaft. Und natürlich werden heute in jedem afrikanischen Land die Menschenrechte, teilweise auf brutalste Art und Weise, mit Füßen getreten. Das liegt aber nicht an der Globalisierung, sondern, ich wiederhole, es liegt daran, dass die Globalisierung an Afrika vorbeigegangen ist. Deshalb sollten sich die Globalisierungsgegner lieber, anstatt sich über die Globalisierung zu beschweren und die afrikanische Not zu beklagen, mal um die echten Ursachen der Not in Afrika kümmern und sollten sich, anstatt beim nächsten EU- oder OECD- oder WTU-Gipfel zu protestieren, Arm in Arm mit mir vor die Botschaften der Länder stellen, die die Menschenrechte in Afrika mit Füßen treten, die verhindern, dass Marktwirtschaft dort existiert. Das sind alles korrupte und feudalistische Systeme. Und die Existenz dieser Systeme der Globalisierung vor die Tür zu legen, ist ein absoluter Quatsch.
TENDENZEN: Attac sieht das anders.
HENKEL: Ich habe langsam das Gefühl, dass Attac das auch schon gemerkt hat und sich deshalb auf was ganz anderes eingeschossen hat. Mir ist aufgefallen, dass Attac sich in Deutschland plötzlich gegen die Rentenreform wendet. Und die Leute von Attac merken plötzlich, dass Deutschland ein Globalisierungsverlierer sein kann, weil die Reform in Deutschland eine Änderung unserer Ansprüche bedeutet. Übrigens: Dann gibt es neben Afrika und einigen Entwicklungsländer natürlich auch noch die muslimische Welt, die islamische Welt, die nach meiner Meinung nicht weiterkommt oder zu langsam weiterkommt. Aber das kann man der Globalisierung auch nicht vorwerfen, sondern auch hier gilt: Das "Sympathische Dreieck" geht an ihnen vorbei. Es gibt 54 islamische Länder, aber nur eins davon ist eine Demokratie, und das ist die Türkei.
TENDENZEN: Türkei?
HENKEL: Natürlich, auch wenn es hier noch viel aufzuholen gibt, insbesondere bei den Menschenrechten. Die islamische Welt missachtet die Rechte von über 50 Prozent ihrer gesamten Bevölkerung, nämlich der Frauen. Das äußert sich in der Tatsache, dass Ehebrecherinnen in Nigeria gesteinigt werden, bis hin zur Tatsache, dass eine Frau in Saudi-Arabien bis heute noch nicht einmal Auto fahren darf. Darf man das der Globalisierung vorwerfen? Wieder nein! Auch hier geht die Globalisierung an den Ländern vorbei, und das ist eben auch ein Resultat der islamischen Ideale, die sich mit den Idealen der Französischen Revolution oder den Menschenrechten, wie wir sie verstehen, eben nicht vertragen.
TENDENZEN: Und noch ein Gedanke aus Ihrem Buch: "Die Probleme, die uns globalisierte Welt stellt, fordern jeden einzelnen Bürger heraus, mehr aus sich zu machen und die Freiheit, die ihm geboten wird, zum Wohle des Ganzen umzusetzen". Aber nicht alle Bürger wollen "mehr aus sich machen", im Sinne unternehmerisch tätig zu werden! Und wer sagt offen und ehrlich, dass die meisten es gar nicht könnten? Der überbordende Sozialstaat fördert ja geradezu die Trägheit der Masse. Müsste nicht da zuerst der Hebel angesetzt werden?
HENKEL: Ja, Sie haben recht, insbesondere bei uns ist die Tendenz verbreitet, sich immer mehr auf den Staat zu verlassen und immer weniger aus sich selbst zu machen. Das ist auch kein Wunder, denn schon seit Jahrzehnten verkünden viele politische Vorbilder, dass man seine Ansprüche an den Staat erhöhen soll. Folgerichtig ist es auch kein Wunder, dass die Eigeninitiative langsam oder sicher unter die Räder geraten ist. Allein das Wort "Vater Staat" sagt alles. Dieses Wort gibt es weder im Französischen oder Englischen, aber bei uns gibt es das. Oder nehmen sie diesen abgenutzten, abgehobelten und, wie ich meine, demagogischen Begriff von der so genannten "Sozialen Gerechtigkeit". Ich habe keine Begründung für diesen Begriff. Gerechtigkeit genügt.
TENDENZEN: Und wo bleibt die soziale Komponente?
HENKEL: Die Gerechtigkeit ist ja sowieso nur in einem sozialen Kontext zu verstehen. Ist jemand ganz allein auf der Insel, braucht er keine Gerechtigkeit, weil er alleine ist. Ist jemand in einem sozialen Umfeld, dann brauchen wir Gerechtigkeit. Also weg mit dem Begriff "Soziale Gerechtigkeit". Es genügt, wenn wir von der Gerechtigkeit sprechen. Aber mit dem Begriff "Soziale Gerechtigkeit" wird eben demagogisch immer wieder unterstellt, dass wir sozusagen die doppelte Gerechtigkeit brauchen. Die brauchen wir nicht. Und deshalb brauchen wir weniger Vorbilder, wie wir sie heute in der Gestalt des Bundespräsidenten haben oder des Bundeskanzlers, bei denen fast in jeder Ansprache die "Soziale Gerechtigkeit" sozusagen aus den Zeilen trieft. Wir brauchen mehr Ansprachen, wie Roman Herzog sie in seiner Ruck-Rede gehalten hat und mehr Ermunterung, aus sich etwas zu machen und sich weniger auf den Staat zu verlassen. Wir haben auch über Kennedy gesprochen. Wir müssen den Staat zurückdrängen und wir müssen das Gut der Freiheit wieder nach vorne bringen. Wir haben zuviel Gleichheitsapostel, und Gleichheit erstickt natürlich die Fähigkeit, etwas zu leisten. Wir müssen dafür sorgen, dass jeder seines Glückes Schmied werden kann, dass jeder und jede am meisten aus seinen oder ihren Anlagen herausholen kann, und wenn jemand unverschuldet in Not gerät, kann diese Gemeinschaft, die mir vorschwebt, ihm viel besser helfen, als wenn wir von morgens bis abends jeden dazu erziehen, vom Staat abhängig zu sein.
TENDENZEN: Und noch einmal Florian Gerster: Der Ex-BA-Chef stellte Anfang September 2003 in einem Debattenbeitrag für DIE WELT "die neue Sozialstaatsfrage". Er zieht bewusst eine Parallele zur von Heiner Geißler 1975 gestellten "Neuen sozialen Frage". Geißlers Frage damals fußte in der Tradition der katholischen Soziallehre. In Ihrem Buch habe ich nirgends eine Regel für den Part, den die Kirchen in der globalisierten Welt spielen könnten, gefunden. Haben Sie die Kirchen vergessen oder sind diese in Ihren Augen ein Auslaufmodell im 21. Jahrhundert?
HENKEL: Ich kann mich mit Geißlers so genannter "Katholischer Soziallehre" überhaupt nicht befreunden. Herr Geißler ist für mich, so wie Herr Blüm damals und Herr Seehofer heute, einer von der Sorte Mensch, die wunderbar ausleben, dass wir in Deutschland eine seltsame Arbeitsteilung haben. Da sind diejenigen, die sich verantwortlich fühlen, den Wohlstand zu mehren und die sich um die Produktivität bemühen, die Vorschläge machen, wie man Deutschland wettbewerbsfähiger machen kann, die daran arbeiten. Und dann gibt es solche, die sich damit profilieren, indem sie immer nur von der Verteilung des bereits Erwirtschafteten oder des zu Erwirtschaftenden reden. Herr Geißler gehört nach meiner Meinung zu dieser Gruppe, und es wird Zeit, dass wir diese Gruppe einmal daran erinnern, dass sie sich in schmählichster Art und Weise an nachfolgenden Generationen versündigt. Geißler und andere begreifen ihre Interpretation der Gerechtigkeit, oder wie sie immer gern sagen: "Sozialer Gerechtigkeit", immer nur auf einer horizontalen Ebene. Da wird von Links zur Mitte und von der Mitte nach Rechts und dann wieder zurück dauernd etwas verteilt, und diese Verteilung findet, ohne dass sie es wahrhaben wollen, aber obwohl sie es genau wissen, im Grunde zu Lasten einer Gruppe statt, die sie heute noch nicht wählen kann.
TENDENZEN: An wen denken Sie hier konkret?
HENKEL: Das sind unsere Kinder bzw. die nachfolgenden Generationen. Wenn wir mal den Maßstab der Gerechtigkeit von der Horizontalen in die Vertikale drehen, dann werden wir merken, wie die heutige Sozialpolitik auf zukünftige Generationen wirkt. Dann müssen wir feststellen, dass gerade diese Generation deutscher verantwortungsloser Sozialpolitiker sich immer dadurch hervorgetan haben, dass sie die Staatsverschuldung nach oben treiben. Sie bewirtschaften und beglücken die derzeitige Wählergeneration mit Sozialversicherungssystemen, die in der Zukunft nicht mehr funktionieren werden.
TENDENZEN: Und die Kirchen…
HENKEL: … haben ihren Beitrag dazu geleistet, immer wieder auf der horizontalen Ebene den sozialen Ausgleich zu fordern und das sehenden Auges und oft wohl wissend. Bei der Kirche ist es vermutlich Naivität, aber bei Leuten wie Geißler, Blüm oder Seehofer nicht. Die wissen ganz genau, dass ihre Aktionen, die sie immer in Deutschland bei den Wählern populär gemacht haben, ein Trümmerfeld für zukünftige Generationen hinterlassen. Wenn sie sich mal ansehen, was mit dem Bundeshaushalt in den letzten 35 Jahren geschehen ist, dann werden sie feststellen, dass Jahr für Jahr mehr für Soziales ausgegeben wird, absolut und relativ. Das heißt, für Dinge, die der heutige Wähler zu schätzen weiß. Jahr für Jahr werden mehr für Zinsen ausgegeben, d.h. es wurden Kredite aufgenommen für die heutigen Wähler, und die Zinsen müssen die Kinder in Zukunft natürlich zahlen. Jahr für Jahr geben wir weniger für die Zukunftsinvestition einschl. Investitionen in Bildung, Forschung aus. Dabei ist das das Einzige, wovon unsere Kinder etwas in der Zukunft haben. Übrigens ist das kein Problem der Wiedervereinigung gewesen, sondern geht schon seit 35 Jahren so. Also muss man diese Leute mal, einschl. der Kirchen, daran erinnern, was sie eigentlich für zukünftige Generationen getan haben und welche verheerenden Folgen ihre Politik für unsere Kinder hat. Dann wird sehr schnell deutlich, dass deren so genannte "Soziale Gerechtigkeit" fast nur zu Lasten zukünftiger Generationen geht.