Dr. Heiner Geißler, geb. am 3. März 1930, drei Söhne, vier Enkelkinder, studierte als Mitglied des Jesuitenordens vier Jahre Philosophie in München und anschließend Rechtswissenschaften an der Universität Tübingen. Er war Richter, dann Jugend-, Sozial- und Sportminister in Rheinland-Pfalz, Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit in Bonn. Von 1980 bis 2002 war er als Abgeordneter der Südpfalz im Deutschen Bundestag, Mitglied des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe sowie des Auswärtigen Ausschusses.
Heiner Geißler ist begeisterter Bergsteiger, Kletterer und Gleitschirmflieger.
TENDENZEN: Herr Dr. Geißler in Ihrem neuen Buch "Was würde Jesus heute sagen?" gehen Sie sehr detailliert auf die Bergpredigt ein. Würde Jesus diese Predigt heute genauso sagen? Immerhin war er den Mächtigen damals ein Dorn im Auge und wurde nicht zuletzt auch deshalb ans Kreuz geschlagen.
DR. GEISSLER: Aber natürlich! Er hat damit eine Volksbewegung in Gang gesetzt, die bis heute besteht und weltweit ca. zwei Milliarden Anhänger hat. Leider wird das heute in den Hintergrund gedrängt. Jesus soll nicht Sozialreformer gewesen sein. Martin Luther hat seinerzeit schon gesagt, die Bergpredigt gehöre nicht ins Rathaus, damit könne man nicht Politik machen. Er hat sich geirrt, wie später auch Bismarck und viele andere. Im Buch schreibe darüber. Wenn man den Kern der Bergpredigt nimmt, ist sie heute so aktuell wie damals.
TENDENZEN: In welcher Partei wäre Jesus heute: Union, SPD, Grünen...?
DR. GEISSLER: In keiner. Ich habe das in einem Kapitel geschrieben. Jesus verkörpert etwas, was viele und vor allem junge Menschen in Politik und Gesellschaft vermissen - die Glaubwürdigkeit. Jesus war einer, der absolut glaubwürdig war. Er handelte wie er redete und umgekehrt. Das war einer der Hauptgründe, warum sie ihn los haben wollten. Er hat die Glaubwürdigkeitsfrage zum Gegenstand der Auseinandersetzung gemacht und das hat die Mächtigen mächtig gestört. Genau wie heute auch.
TENDENZEN: Andersherum gefragt: In welcher Kirche wäre Jesus heute: Evangelischen, Katholischen, in irgendeiner Freien...?
DR. GEISSLER: Jesus ist der erste und einzige Stifter einer Kirche, der er nie angehört hat. Jesus war Jude und ist als Jude gestorben. Seine Botschaft wurde nicht nur weiter entwickelt, sondern vor allem verfälscht! Sie wurde mit Irrlehren ergänzt, z.B. mit der Gnosis. Schon Paulus hat sich mit dem Neoplatonismus herumgeschlagen und hat ihn teilweise übernommen. Dementsprechend ist er auch falsch übersetzt worden. Jesus hat auch nicht gesagt "Tut Buße!" sondern "Denkt um!", Denkt anders!". Nein, Jesus wäre in keiner Kirche heute, bestenfalls in einer vereinigten Kirche, in der alle Christen versammelt wären.
TENDENZEN: Wenn Jesus heute auftauchen würde, würde ihm der Papst dasselbe fragen, was ihn bei Dostojewskis der Großinquisitor fragt?
DR. GEISSLER: Der Großinquisitor ging auf den Platz zu Jesus hin und fragte, warum störst du uns? Und dann ließ er ihn verhaften. Mich hat es auch interessiert, wen würde Jesus heute stören? Und da kommt man zu erstaunlichen Ergebnissen.
TENDENZEN: Würde er auch Sie stören?
DR. GEISSLER: Er würde mich sicher auch stören. Weil ich Fehler mache, weil ich mich manchmal nicht so einsetzen will, wie es für eine gute und gerechte Sache vielleicht am besten wäre.
TENDENZEN: Das beste, was das Abendland hervorgebracht hat, seien Ketzer gewesen, sagt man. Sie waren in Ihrer Partei oft als Ketzer stigmatisiert worden. Ganz heftig gar als Sie 1975 die "Neue soziale Frage" formuliert hatten. Heute reden alle wie selbstverständlich von einer "Neuen Sozialstaatsfrage". Späte Genugtuung?
DR. GEISSLER: Nein, solange man wirklich die soziale Gerechtigkeit im Sinn hat und nicht den Leuten Kürzungen als gute und notwendige Reformen verkaufen will. Da bin ich mit Jesus in guter Gesellschaft - er forderte auch, dass zur Solidarität die Reichen mehr beitragen sollten als die Schwachen.
TENDENZEN: In vielen Ländern der Welt und Europa, z.B. Frankreich, gilt eine strikte Trennung von Kirche und Staat. Der Staat treibt so beispielsweise keine Steuer für die Kirchen ein. Ein Modell auch auf unser Land übertragbar?
DR. GEISSLER: Auf Deutschland nicht übertragbar, denn im Laufe der Zeit entwickelten die Kirchen mit ihren Sozialwerken (Caritas, Diakonisches Werk) ein enges Netz an Hilfsangeboten, die eine staatliche Fürsorge niemals würde leisten können.