EDITORIAL
"Herr, ich habe keinen Menschen..."
Liebe Leserin, lieber Leser,
wir leben hier in einem Teil der Welt in einer Zeit, wie es sie hier im "alten Europa" im Hinblick auf Sicherheit, Frieden und Reichtum noch nie über so viele Jahre am Stück gegeben hat. Wir haben allen Grund glücklich und dankbar zu sein. Sind wir das?
Zu keiner Zeit in der jüngeren Geschichte waren die Menschen freier, haben über mehr Möglichkeiten verfügt, das zu tun, was sie wollen. Eigene Selbstverwirklichung verstehen immer mehr Zeitgenossen als verbrieftes Grundrecht. Alleine: Gratis gibt es nichts. Irgendwer zahlt immer am Ende.
* Die Zahl der Eheschließungen sank von 75 052 (in 1950) auf 39 167 (in 2002).
* Die Zahl der Scheidungen stieg von 135 010 (in 1992) auf 204 214 (in 2002).
* Die Zahl der Lebendgeborenen sank von 1 116 701 (in 1950) auf 770 744 (in 1999).
Das Leben ist nur noch in den Werbespots heil, fröhlich und in Ordnung. In Wirklichkeit spielen sich hinter den Wohnungstüren oft erschütternde Dramen ab. Wie sonst ist die Tatsache zu erklären, dass wir in Deutschland jährlich mehr Selbstmorde als Verkehrstote zählen? Homo homini lupus - der Mensch ist dem Menschen ein Wolf geworden.
Im hörenswerten Chanson "Allein" singt Reinhard Mey auch die Zeile "An den Kreuzwegen des Lebens sind wir immer ganz allein ...".
Die Jagd nach dem Besten, was uns die Wohlstandsgesellschaft bietet, hinterließ ein Loch im Herzen, ein Vakuum in der Seele.
Vor 2000 Jahren - so wird im Johannesevangelium, Kapitel 5 berichtet - begegnete Jesus einem Mann, der am Teich Betesda seit 38 Jahren krank lag. Auf Jesu Frage, ob er gesund werde wolle, antwortete dieser: "Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt." Jesus heilte den Mann mit nur einem Satz: "Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!"
Seit dem ersten Lesen dieser Geschichte, geht mir die Klage des Mannes nicht aus dem Sinn: "Herr, ich habe keinen Menschen..."
Wir alle sind "krank" vom Leben, von der Individualisierung und vom Ellenbogenkampf um Wohlstand. Wir alle leiden unter der Diktatur der Oberflächlichkeit. Wir alle sehnen uns nach einer Hand, die uns ergreift, nach einer Schulter, an die wir uns anlehnen können. Die meisten machen dieselbe Erfahrung und haben keinen Menschen.
Derselbe Jesus, von dem auch in meinem Gespräch mit Dr. Heiner Geißler am meisten die Rede ist, sagte auch: "Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken."
Er ist der einzige, der stets bei uns ist, auch und erst recht an den Kreuzwegen des Lebens.
Ich wünsche sie in Seine Hand.
Herzlichst
Ihr
A.Schosch