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Zügellose Sexualität


Sexueller Missbrauch, ermordete Kinder. Es sträubt sich die Feder, darüber zu schreiben. Doch die Szenen entspringen nicht einem Horrorfilm oder einem schlechten Roman. Ein neunjähriges Mädchen zusammen mit seinem Bruder von zwei Männern entführt. Des Buben entledigen sich die Täter sofort; er stört nur. Für die Neunjährige hingegen beginnt ein Martyrium, schlimmer, als es sich jede Fantasie ausmalen kann.

Und es tun sich Fragen auf. Fragen nach der Herkunft der Täter. Welche Kindheit sie hatten. Welche Erfahrungen sie in ihrer Pubertät machen mussten. Womit sie sich stimulierten, sei es durch Filme, Pornografie oder durch gegenseitige Animation. Nicht nur für die Ermittler, den Staatsanwalt und den Richter ist dies wichtig zu erfahren. Denn es geht um mehr als nur das Maß der Strafe.

Ist es damit getan, sie für ein paar Jahre wegzusperren? Müssten nicht härtere, drakonischere Mittel angewandt werden? Natürlich werden sie an Stammtischen und an Ladentheken — dort, wo das Volk sein Recht spricht — hart hergenommen, mit der Todesstrafe belegt, und das ist noch das Mindeste.

Nun weiß man aus bitterer Erfahrung, dass die Todesstrafe nach dem Talionsgesetz (Auge um Auge, Zahn um Zahn, Leben um Leben) niemanden von Gewaltverbrechen abhält. Wir sind in unserem Staat auch mittlerweile weiter. Todesurteile sind kein Thema, und das ist gut so.

Was aber muss eine Gesellschaft tun, um Taten wie die von Eschweiler und zuvor schon von Eberswalde, Lichtenberg und Biebertal — immer waren junge Mädchen die Opfer — zu verhindern? Es ist schon zu spät, wenn ein Kind missbraucht wird. Wir alle müssen uns mehr Wissen aneignen über die Abgründe, die in den Menschen, vielleicht in jedem von uns, verborgen sind. Nur wer über diese Abgründe Bescheid weiß, lässt sich nicht von dunklen Trieben leiten.

Überprüft werden muss ferner das Maß an Freizügigkeit, mit der die offene Gesellschaft kokettiert. Verbote brächten doch nichts, sagen die scheinbar Liberalen, an denen der Porno-Schmutz in Videotheken und Internet, die lustgierigen Gewaltorgien, die blutrünstigen Horrordarstellungen abperlen wie Regentropfen auf einer Pelerine. Von manchen Menschen werden diese Darstellungen offensichtlich doch aufgesogen und verarbeitet.

In diesen Tagen jährt sich das Massaker von Erfurt. Wir werden zwar nie erfahren, was den jungen Mann letztlich dazu getrieben hat. Wir wissen aber, dass auch er süchtig nach Videos war, denen eines gemeinsam ist: dass sie sich steigern müssen von einer Grausamkeit zur anderen; dass sie den Kick brauchen, um zu wirken.

Es sind dies Zeiten, in denen der Tabubruch Mode geworden ist. Die Schwellen der Scham werden systematisch abgebaut, und dafür ernten Künstler, PR-Profis und Werbeleute mitunter auch noch höchstes Lob.

Warum, so lässt sich fragen, stehen neben Parteien und anderen Institutionen auch die Kirchen so schlecht im Kurs (die NZ hat berichtet)? Weil auch sie sich scheuen, die Dinge beim Namen zu nennen? Und Gewissensbildung zu einem verpönten Wort geworden ist?

Raimund Kirch

( http://www.nz-online.de/artikel.asp?art=81461&kat=4 )

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