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Interviews

Zum Nachdenken

Claus Jacobi, Berlin

Stuermer

Claus Jacobi, 71, war bis Ende 1998 Herausgeber von "Welt am Sonntag". Jeden Samstag veröffentlicht er eine Kolumne in der Bild-Zeitung. Ausgewählte veröffentlicht TENDENZEN mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.










"Ich und Haben und Mehr"

Von Claus Jacobi, Hamburg

Zur Lage der Nation: Die Deutschen sind eine weithin materialistische Gesellschaft geworden. Das Goldene Kalb wurde Götze. Gier und Geiz sind dessen Gesellen. Geld wird oft mit Glück verwechselt. Nichts dünkt den meisten Menschen heute wichtiger als das eigene Wohlergehen. Es ist für viele der höchste Wert. Selbstsucht wurde Ersatzreligion. Blaue Flecken an den Ellenbogen sind Statussymbol. Populäre Ziele: Mehr Genuss bei weniger Leistung, mehr Vergnügen bei weniger Verantwortung, mehr Rechte bei weniger Pflichten. Mehr, mehr, mehr. Ich, ich, ich. Haben, haben, haben. Wellness, Fitness und PS. Wir können den Hals nicht voll kriegen.

Der Gemeinsinn welkt. Tabus zerbrechen. Porno gibt's gratis im Fernsehen. Rauschgift schenkt einigen ihre kühnsten Visionen. Heiraten und Geburten nehmen ab, Scheidungen und Abtreibungen zu.

Lust statt Liebe und Laster statt Tugend sind in der Spaßgesellschaft angesagt. Selten hat es so eine Scham-arme Zeit gegeben.

Die Moral leidet an Magersucht. Manieren kämpfen den Kampf des Schneemannes im April. Nächstenliebe und Demut, Bescheidenheit und Anstand sind vierspännig auf dem Rückzug. Mehr Schein als Sein ist selbstverständlich.

Schaumschläger führen das große Wort in einer Republik der Geschwätzigkeit. Heuchelei quillt aus den Treibhäusern der Betroffenheit. Ehrlichkeit wird häufig für Dummheit gehalten, Betrug für Raffinesse. Bestechung gilt als Kavaliersdelikt. Korruption hat kaum übersehbar ihr hässliches Haupt erhoben.

Parvenüs protzen mit ihrem Reichtum. Die politische Klasse stellt kaum noch Vorbilder. Der Staat übt sich in Toleranz. Soldaten dürfen Mörder genannt werden. Mit Chaoten wurde verhandelt. Gewalt gegen Sachen wurde eine lässliche Sünde, Graffiti kreativ.

Der Fortschritt brummt: Windkraft, Quotenfrauen und Rechtschreibreform, Fixerstuben für Junkies, Renten für Huren und verbilligte Bahnfahrten für Senioren. Der Kanzler schwor nicht mehr bei Gott. 16-jährige erhielten Wahlrecht. Verbrecher hatten Ausgang wie Rekruten und wussten ihn zu nutzen. Schulkinder wurden dümmer. Multi-Kulti marschierte. Schwule heirateten. Die Rechte der Minderheiten wurden vorbildlich geschützt. Der Wohlstand wuchs. Und im Fußball sind wir Vize-Weltmeister geworden.

"Fortschritt", sagte der Großvater auf der Grillparty: "Früher aßen wir im Haus und verrichteten unsere Notdurft im Freien. Jetzt essen wir im Freien und verrichten unsere Notdurft im Haus."

Claus Jacobi

Buchtipp:

Joachim Fest

Claus Jacobi
Von Glück, Gespenstern und dem Geheimnis des Lebens
Denkanstösse über den Tag hinaus

208 Seiten, gebunden
Goldmann Taschenbuch

29,80 DM

ISBN : 3-7766-2074-9

Eine Auswahl von 78 Kolumnen, die Claus Jacobi in den letzten Jahren veröffentlicht hat, ist jetzt zum ersten Mal als unter Von Glück, Gespenstern und dem Gehiemnis des Lebens erschienen. Es sind Glanzstücke des deutschen Journalismus. Jacobi liebt Geschichte und Geschichten. "Political correctness" läßt ihn "kalt wie der Kuß einer Tante". Und er ist überzeugt: "Wenn Heuchelei dick machen würde, bräuchten unsere Parlamente Flügeltüren".

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