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Interviews

Zum Nachdenken

Claus Jacobi, Berlin

Stuermer

Claus Jacobi, 71, war bis Ende 1998 Herausgeber von "Welt am Sonntag". Jeden Samstag veröffentlicht er eine Kolumne in der Bild-Zeitung. Ausgewählte veröffentlicht TENDENZEN mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.










"Wer Geld hat, ..."

Von Claus Jacobi, Hamburg

Wachsender Luxus und wissenschaftlicher Fortschritt, so schreibt Amerikas größter Historiker Will Durant in seiner 18-bändigen Kulturgeschichte der Menschheit, hätten den Niedergang Athens und den Verfall seiner Sitten begleitet.

An was erinnert uns das nur?

Will Durant: "Der Eizelne befreite sich immer mehr von überkommenen moralischen Normen - der Sohn von der elterlichen Autorität, der Mann von der Ehe, die Frau von der Mutterschaft, die Bürger von der politischen Verantwortung."

Kommt einem auch bekannt vor...

"Der Lehrer", so berichtet Zeitzeuge Plato (427-347 v.Ch.), "fürchtet seine Schüler und schmeichelt ihnen. Die Schüler aber haben keinen Respekt vor ihren Lehrern."

Eine Pisa-Studie der alten Griechen?

Weiter im Text (von Plato): "Die Alten lassen sich zu den Jungen herab und treiben laute Späße und Scherze mit ihnen und gebärden sich wie Jünglinge, um ja nicht den Anschein zu erwecken, sie seien griesgrämig oder herrisch."

Auf dem Gebiet mühte sich unsere politische Klasse ebenfalls redlich ab.

"Der Genuss des Wohlstandes und die vom Frieden begleitete Muße machen die Menschen zu übermütigen Gesellen", fügt Zeitzeuge Aristoteles (348-322) v.Ch.) hinzu. Und: "Niemand kann gut befehlen, der nicht zuvor gehorchen gelernt hat."

Rom trat Athens Erbe an. Nie zuvor hatten Menschen ein großartigeres Imperium geschaffen. Doch als die Barbaren es vor 1500 überrannten, da war es nur noch glitzernde Fassade.

Ein gigantischer Potsdamer Platz.

Überfluss hatte Rom ausgehöhlt: Sexuelle Exzesse, wuchernde Bürokratie und überhöhte Steuern, Faulheit und Feigheit, Inflation und Korruption, Entmutigung der Telentierten und Mangel an Moral.

Wird uns ja immer ähnlicher...

Die Geschlechtlichkeit hatte sich in Freiheit ausgetobt, während die politische Freiheit verfiel", befand der große Will Durant über den Untergang Roms. "Der Arbeitswille schwand dahin, der Geschmack wurde roher," konstatierte der russische Archäologe Michael Rostovtzeff.

Klingt auch nicht gerade fremd.

"Wenn einer Geld hat", notierte Zeitzeuge Ovid (43 v.Ch. - 17 n.Ch.), darf er dumm sein, wie er will."

Noch moderner geht es kaum.

Als Rom unter Octavian in seiner Blüte stand, hatte seine Bürger 76 Feiertage. Als Nero, der letzte Kaiser aus der Familie des Julius Caesar, 100 Jahre später Selbstmord beging, waren es 176 Feiertage.

Wir nennen das heute Fortschritt...

"Die Menge", so erkannte Zeitzeuge Plutarch (45-125 n.Ch.), "vermag Größe nur schwer zu ertragen und empfindet lustvolle Befriedigung darin, sie zu demütigen und zu sich herabzuziehen."

Fundament unseres kritischen Journalismus für Quote und Auflage.

"Niemand betrachtet den Wehrdienst mehr als allgemeine Verpflichtung," klagte Bischof Ambrosius (340-397 n.Ch.) im untergehenden Rom.

2001 gab es in der Bundesrepublik 182 420 Wehrdienstverweigerer. Rekord.

Athen und Rom wurden Opfer der Dekadenz, dem immer wiederkehrenden Zustand des süßen Verfaulens. Schaffen wir die Wende, die ihnen nicht gelang ?

Ich glaube kaum. Aber wir's nicht packen, so gibt's doch einen Trost: Auch heute lässt sich's in Athen und Rom gut leben.

Claus Jacobi

Buchtipp:

Joachim Fest

Claus Jacobi
Von Glück, Gespenstern und dem Geheimnis des Lebens
Denkanstösse über den Tag hinaus

208 Seiten, gebunden
Goldmann Taschenbuch

29,80 DM

ISBN : 3-7766-2074-9

Eine Auswahl von 78 Kolumnen, die Claus Jacobi in den letzten Jahren veröffentlicht hat, ist jetzt zum ersten Mal als unter Von Glück, Gespenstern und dem Gehiemnis des Lebens erschienen. Es sind Glanzstücke des deutschen Journalismus. Jacobi liebt Geschichte und Geschichten. "Political correctness" läßt ihn "kalt wie der Kuß einer Tante". Und er ist überzeugt: "Wenn Heuchelei dick machen würde, bräuchten unsere Parlamente Flügeltüren".

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