Claus Jacobi, 71, war bis Ende 1998 Herausgeber von "Welt am Sonntag". Jeden Samstag veröffentlicht er eine Kolumne in der Bild-Zeitung. Ausgewählte veröffentlicht TENDENZEN mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.
 
  Claus Jacobi, 71, war bis Ende 1998 Herausgeber von "Welt am Sonntag". Jeden Samstag veröffentlicht er eine Kolumne in der Bild-Zeitung. Ausgewählte veröffentlicht TENDENZEN mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.
Von Claus Jacobi, Hamburg
        Der Herbst in der Natur. Der Sommer hat sich angestrengt in diesem           Jahr. Doch nun regnet's Eicheln und Kastanien. Nebelschleier hängen           in den Weiden. Die Störche sind längst fort; ihr Blut hat sie           erinnert, dass es Zeit ist zu ziehen. Nur Stare üben noch in dichter           werdenden Schwärmen für den großen Flug nach Süden.           Die Igel fressen sich den Bauch im Hundenapf winterdick. Waidmänner           stapfen stolz durch ihre Miet-Reviere. "Jäger ist er nicht,           aber der Hang zur Übertreibung ist da", hatte einst der Eiserne           Kanzler einen Gegner charakterisiert. Die Deiche sind in Nolde-Licht getaucht.           Die Tage werden kürzer, die Bremswege länger, sagt Markus M.           Ronner.
      Im "Herbstlied" von Johann Gaudenz heißt es: 
"Bunt sind schon die Wälder, gelb die Stoppelfelder, und der Herbst beginnt.
Rote Blätter fallen, graue Nebel wallen, kühl weht der Wind."
Der Herbst des Lebens. Bei den Zweibeinern ist das "Metall-Alter" der Herbst unter           den Jahreszeiten des Daseins: "Silber im Haar, Gold im Mund, Blei           in den Gelenken." Der eine feiert seinen Geburtstag nicht mehr so           lärmend wie einst, der andere zwängt sich eine letzte Saison           in den unbequemen Sportwagen. Die Kinder sind aus dem Haus. Mütter           erwägen sich selbst zu verwirklichen. Fürsorgliche Väter           denken erstmals an ihr Testament, weniger fürsorgliche an einen zweiten           Frühling mit dritten Zähnen. "Im Alter nennt man den Herbst           Spätsommer", hat Gerhard Uhlenbruck beobachtet.
      In seinem "Herbsttag" hat Rainer Maria Rilke alle gewarnt:
    
"Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern,
wenn die Blätter treiben."
Der Herbst in der Politik. Nach dem Frühling des Wirtschaftswunders unter Adenauer und Erhard           und dem Sommer der Erben und des Erntens unter Schmidt und Kohl ballen           sich jetzt Wolken über die Bundesrepublik. Das "Esperanto-Geld"           löste die D-Mark ab. Die politische Klasse hat weithin versagt. Ex-Kanzler           Schmidt konstantierte ihren Qualitätsverlust. Wähler sind parteiverdrossen.           Nichtwähler stärkste Partei. Zwischen Regierenden und Regierten           tut sich eine Kluft auf. Die Schulden wachsen. Der Dschungel der Bürokratie           wird immer undurchdringlicher.
      Der Lehrsatz des Pythagoras umfasste 24 Wörter, Paragraph 19a des           Einkommensteuer-Gesetzes 1862 Worte. Materialismus ist die Kraft, von           der die Deutschen am meisten bewegt werden. Patroitismus, Religion und           Familiensinn leiden an Magersucht. Idole und Ideale sind Mangelware.
      Zuversicht findet sich dennoch im Herbst-Gedicht von Manfred Hausmann:
    
"Wo kein Sinn mehr misst, waltet erst der Sinn.
Wo kein Weg mehr ist, ist des Wegs Beginn."
Des Herbstes Beginn. Am 23.           September war Herbstanfang. "O'zapft is" auf der Wies'n. Die           Weinlese hat begonnen. Erntedankfest und Frankfurter Buchmesse stehen           vor der Tür. "Erscheinen die meisten Bücher im Herbst,           um an die Vergänglichkeit zu erinnern?", fragt Nikolaus Cybinski.           Rings um uns hat der Zauber des Verwelkens eingesetzt.
      So morbide seine Schönheit ist, so gehört auch er zum ewigen           Wachsen und Werden, Vergehen und Neubeginn. "Gepriesen werde der           Herbst" sang Conrad Ferdinand Meyer (in dem "das Wild im Pfeffer           liegt", fügte E. Baschnonga hinzu). "Eine Festzeit für           die Erinnerung an leiden und vergangene Freuden der Liebe", taufte           Hölderlin die Jahreszeit. Wenn die Hirsche röhren und sich die           Blätter färben, vollzieht sich vor unseren Ohren und Augen ein           Wunder jener Schöpfung, von der wir Teil sind - und die südliche           Erdhalbkugel mit Rio, Kapstadt und Sydney startet in den Frühling.
  
    
Claus Jacobi

Claus Jacobi
    Von Glück, Gespenstern und dem Geheimnis des Lebens 
    
    Denkanstösse über den Tag hinaus
    
    208 Seiten, gebunden
    
    Goldmann Taschenbuch 
    
    
    29,80 DM
    
    
    ISBN : 3-7766-2074-9
    
  
Eine Auswahl von 78 Kolumnen, die Claus Jacobi in den letzten Jahren veröffentlicht hat, ist jetzt zum ersten Mal als unter Von Glück, Gespenstern und dem Gehiemnis des Lebens erschienen. Es sind Glanzstücke des deutschen Journalismus. Jacobi liebt Geschichte und Geschichten. "Political correctness" läßt ihn "kalt wie der Kuß einer Tante". Und er ist überzeugt: "Wenn Heuchelei dick machen würde, bräuchten unsere Parlamente Flügeltüren".