Dr.               Edmund Stoiber, Bayerischer Ministerpräsident, geboren am               28.09.1941 in Oberaudorf, Landkreis Rosenheim, römisch-katholisch,               seit 1968 verheiratet, drei Kinder. Nach dem Abitur Studium der Rechtswissenschaften               und der politischen Wissenschaften an der Universität München               und an der Hochschule für politische Wissenschaften.
  
Nach dem 2. Juristischem                 Staatsexamen 1971 Übernahme in das Bayerische Staatsministerium                 für Landesentwicklung und Umweltfragen. Von 1972 bis 1974 persönlicher                 Referent des Staatsministers, zuletzt Leiter des Ministerbüros.
  Von November 1989 bis                 Oktober 1993 Stellvertretender Parteivorsitzender der CSU und von                 November 1989 bis November 1993 Vorsitzender der Grundsatzkommission                 der CSU. Mitglied des Bayerischen Landtags seit 1974.
  Von Oktober 1982 bis                 Oktober 1986 Staatssekretär und Leiter der Bayerischen Staatskanzlei.                 Von 1986 bis 1988 Staatsminister und Leiter der Bayerischen Staatskanzlei.                 Von 1988 bis 1993 Bayerischer Staatsminister des Innern. Präsident                 des Bundesrates von November 1995 bis Oktober 1996.
  Seit 28. Mai 1993 Bayerischer                 Ministerpräsident.
   
  
  
    TENDENZEN: Herr Dr. Stoiber, 40 Jahre lang herrschte trotz mancher Differenzen zwischen           den gesellschaftlichen Gruppen der Bundesrepublik ein Konsens darüber,           dass die Grundwerte des christlichen, europäischen Abendlandes das           tragende Element des Zusammenlebens bilden. Bei der Vereinigung mit den           Ländern der ehemaligen DDR prägte Willy Brandt den Gedanken,           jetzt wachse zusammen, was zusammen gehöre. Und dennoch beschleicht           viele das Gefühl, "Schwestern und Brüder" sind sich           nach zwölf Jahren immer noch mehr fremd als vertraut, womöglich           als Folge jahrzehntenlanger kommunistischer Umerziehung im Osten. Was           kann, was muss die Politik in den nächsten Jahren hier tun?
    DR. STOIBER: Die Menschen           im Osten Deutschlands haben in den letzten zwölf Jahren enorme Umbrüche           ihrer Lebensverhältnisse bewältigt. Das ist eine herausragende           Leistung für die Einheit Deutschlands. Dennoch schließt sich           die Schere bei der wirtschaftlichen Entwicklung zwischen Ost und West           nicht, sondern sie ist während der rot-grünen Bundesregierung           sogar auseinander gegangen. Im Osten gab es im letzten Jahr eine echte           Rezession, also ein wirtschaftlich negatives Wachstum. Das haben die Menschen           im Osten nicht verdient. Wir brauchen einen Aufschwung Ost. Dafür           werde ich nach dem 22. September als Bundeskanzler stehen. Wenn es dem           Osten nicht besser geht, wird Deutschland vom letzten Platz in der wirtschaftlichen           Entwicklung Europas nicht wegkommen. Ganz Deutschland hat daher ein entscheidendes           Interesse daran, dass es im Osten wieder aufwärts geht. 
    TENDENZEN: In den           letzten Jahren konnte eine enorme Individualisierung der Gesellschaften           in allen Staaten der sogenannten westlichen Welt beobachtet werden. Dies           wirkte sich in starkem Maße auf die Institution Familie aus. Schon           spricht man von "Patchwork-Familien", in denen Kinder bis zu           ihrem Erwachsenwerden als Eltern, Onkel und Tanten mehrere Bezugspersonen           wechseln. Muss sich die Politik dieser Entwicklung "hilflos"           ergeben oder kann, und wenn ja wie, gegengesteuert werden? 
    DR. STOIBER: Die Familienpolitik           steht für uns im Mittelpunkt. Wir wollen ein Familiengeld einführen,           die Berücksichtigung von Kindern bereits bei der Beitragsleistung           zur Sozialversicherung und eine bessere steuerliche Abzugsmöglichkeit           der Kinderbetreuungskosten. In Bayern wollen wir bis zum Jahr 2008 eine           bedarfsdeckende Kinderbetreuung bis zur zehnten Klasse zur Verfügung           stellen, wenn Eltern dies in Anspruch nehmen wollen. Materielle Hilfen           allein reichen aber nicht aus. Wir müssen deutlich machen, dass Mütter           aber auch Väter mit ihrer Erziehungsleistung einen enormen Beitrag           für die Zukunft unseres Landes leisten. Wenn eine Mutter mit drei,           vier Kinder z. B. in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist,           wird das vielfach immer noch als Belästigung für andere angesehen.           Das muss sich grundlegend ändern. Da sind uns andere Länder           teilweise voraus. 
    TENDENZEN: Nicht           erst seit dem Terror-Anschlag in New York am 11. September 2001 ist die           dunkle Seite der religiösen Radikalisierung offenbar geworden. Freie,           säkulare Gesellschaften üben - vor allem mit ihren hohen sozialen           Standards - eine ungeheure Sogwirkung auf Menschen anderer Kulturen, die           oft in Ermangelung eines auch noch so minimalen Wohlstandes in die Religiosität           flüchten. Weder tun sich diese Menschen selbst - noch wir ihnen einen           Gefallen, wenn wir sie bei der Aufnahme weiterhin dem Kulturschock und           nicht selten einem regelrechten Kulturbruch aussetzen. Kann das bei der           Zuwanderungsfrage nicht stärker diskutiert werden? 
    DR. STOIBER: Die Integrationsfähigkeit           unseres Landes ist heute sicher an einer Grenze angekommen. Deswegen will           die Union im Gegensatz zur rot-grünen Bundesregierung keine Ausweitung           der Zuwanderung, sondern eine Begrenzung der Zuwanderung und eine bessere           Steuerung. Wenn die Integrationsfähigkeit eines Landes überschritten           wird, entwickeln sich Parallelgesellschaften. Das kann niemand wollen.           Deutschland nimmt heute jedes Jahr Zuwanderer in einer Größenordnung           auf, die der Einwohnerzahl von Dortmund oder Nürnberg entspricht.           Das führt zu sozialen Problemen. Wenn heute in manchen Eingangsklassen           nur noch zwei oder drei Schüler Deutsch als Muttersprache haben,           dann ist eine Integration nicht möglich. Dann leiden sowohl die einheimischen           Schüler als auch die Kinder von Zuwanderern. 
    TENDENZEN: Heimat,           Vaterland und Religion bildeten für Menschen viele Jahrzehnte lang           eine verlässliche Bezugsgröße. Auch wenn die Religion           die intimsten Schichten der Menschen ansprechen und befriedigen kann und           der Staat sich da aus gutem Grund heraushalten sollte, haben wir alle           einen hohen Nutzen davon, wenn im sozialen Bereich Politik und Kirche           Hand in Hand arbeiten. Kann da, und wenn ja, wie und was, mehr und besser           gemacht werden? 
    DR. STOIBER: Die Kirchen           übernehmen nicht nur sehr viele Aufgaben im sozialen Bereich, für           die sonst Staat und Kommunen handeln müssten. Sie verkörpern           darüber hinaus nach wie vor die Fundamente unserer Werteordnung und           unseres christlich-abendländischen Weltbildes. Ohne die Kirchen wären           viele Menschen schutzlos dem Zeitgeist ausgesetzt. Sie bieten wie wenige           andere Institutionen Halt und Orientierung. Die Unionsparteien sind stolz           darauf, das "C" in ihrem Namen zu tragen. 
    TENDENZEN: Zum Schluss           eine persönliche Frage: Wie beeinflusst Ihre religiöse Verwurzelung           Ihr politisches Handeln?
    DR. STOIBER: Auch bei           der Vielzahl von politischen Tagesentscheidungen, die ich zu treffen habe,           ist für mich das christliche Menschenbild die letztentscheidende           Richtschnur. Es setzt auf die Eigenverantwortung des Einzelnen und gleichzeitig           auf die Solidarität mit den Schwächeren in unserer Gesellschaft.