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Lauter Fundamentalisten

Ein Gespenst geht um, nicht in Europa, sondern in der ganzen Welt, der Fundamentalismus. Gespenster haben keine klaren Konturen; die Angst, die sie erzeugen, ist jedoch real. Niemand vermag im Einzelnen zu sagen, was der Fundamentalismus ist, aber alle wissen oder glauben jedenfalls zu wissen, dass er etwas Böses ist. Und weil die meisten Menschen zu den Guten gehören wollen, gibt es für sie keinen kürzeren Weg zu diesem schönen Ziel, als ihren Abscheu zu bezeugen vor "dem Fundamentalismus".
Die gängige Antwort, Fundamentalist sei, wer Anspruch mache auf verbindliche Wahrheiten, taugt nicht viel. Denn dann hätten ja nicht nur der Papst, sondern auch die allermeisten Wissenschaftler mit diesem Vorwurf zu leben. Auch sie behaupten, Wahrheiten zu kennen, deren meiste sich in der Wirklichkeit glanzvoll bewährt haben. Trotz Nietzsches Einspruch steht und fällt das Ansehen der Wissenschaft mit ihrem Anspruch auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Wer dagegen verstößt, wird aus der Scientific Community ausgeschlossen.

Offenbar kommt es nicht auf den Anspruch an, Wahrheiten zu kennen oder zu verkünden, sondern darauf, wie diese Wahrheiten aussehen. Wäre der Wunsch nach einem letzten Fundament tatsächlich alles, dann könnte man auch Thomas Jefferson, den Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, in der Freiheit, Gleichheit und das Streben nach Glück als letzte, selbstverständliche Wahrheiten verkündet werden, als einen Fundamentalisten betrachten. Jeffersons Wahrheiten richten sich allerdings an alle Menschen, sie schließen ein, nicht aus, und das unterscheidet sie von den anderen, den restriktiven, feindseligen Fundamentalismen. Sich auf ein Fundament zu berufen ist nichts Vormodernes oder Gefährliches, keine Marotte von Selbstmördern oder Gotteskriegern; insofern haben die Engländer Recht, wenn sie sagen, dass jeder Mensch ein Fundamentalist von irgendetwas sei. Auch das ist eine Wahrheit, vielleicht sogar eine letzte; nur eben eine, die sich ausdrücklich an alle richtet.

Wer andere ausschließt, es aber trotzdem oder eben deshalb ernst meint mit seinem Anspruch auf ein Fundament, dem bleibt, um die Welt nach seinen Vorstellungen zu modellieren, nur das Mittel der Gewalt. Er muss die Ungläubigen zwingen, die Widerständigen unterwerfen, die Gegner vertreiben, gefangen setzen oder ausrotten: also einiges von dem tun, was in den heiligen Schriften des Islam über den Umgang mit Andersgläubigen zu lesen ist. Toleranz gegen die Ungläubigen, an deren historische Beweise zu erinnern die Anhänger des interkulturellen Dialogs nicht müde werden, war unter der Herrschaft des Islam immer nur ein Gnadenakt. Sie war ein Zeichen von Großmut, von politischem oder wirtschaftlichem Kalkül, aber kein Recht, auf das man sich berufen konnte. Dies Fundament sah anders aus als das von aufgeklärten Christen. Das weiche Fundament der Toleranz ist schwer zu verteidigen, weil er auf den harten Panzer, den der selbstgewisse Glaube an Erlösung und Erleuchtung verleiht, bewusst verzichtet. Die Zuflucht zur Natur, zu angeborenen oder selbstevidenten Rechten, die mit der Geburt erworben werden und niemals wieder verloren gehen können, kann diesen Panzer nicht ersetzen. Denn der Glaube an die Natur ist ja auch entzaubert worden, auch er erscheint nur noch als Glaube. Er hat die Menschen immer das erkennen lassen, was sie erkennen wollten, weil es gerade Mode war: das egoistische oder das altruistische Gen, den Kampf ums Dasein oder den Brutpflegeinstinkt, das Recht des Stärkeren oder das der Schwachen. Am Ende haben auch hier die Skeptiker Recht behalten mit ihrer Warnung, dass man aus der Natur nichts lernen könne, zumindest nichts Bestimmtes.

Die Aufgabe besteht darin, dieses Bewusstsein, dass es ein Fundament im Sinne Schrift- oder Naturgläubiger nicht gibt, als das Fundament zu erkennen, das zu verteidigen sich lohnt. Die Propheten des Multikulturalismus können das nicht, wollen es vielleicht auch gar nicht. Wenn sie an denselben Schulen, denen sie den christlichen Religionsunterricht genommen haben, islamischen Religionsunterricht propagieren, dann zeigen sie, wie wenig sie begriffen haben, dass auch die Toleranz einer Grundlage bedarf, die gepflegt und verteidigt werden muss.

Konrad Adam

Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion "DIE WELT".
Den Autor erreichen Sie unter: adam@welt.de

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