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Interviews

Zum Nachdenken

Claus Jacobi, Berlin

Stuermer

Claus Jacobi, 71, war bis Ende 1998 Herausgeber von "Welt am Sonntag". Jeden Samstag veröffentlicht er eine Kolumne in der Bild-Zeitung. Ausgewählte veröffentlicht TENDENZEN mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.










Glaube und Kraft

Von Claus Jacobi, Hamburg


Die Fähigkeit zu glauben, war eines der großen Erfolgsgeheimnisse des Zweibeiners.

Nach der Bibel kann der Glaube "Berge versetzen". Gustave Le Bon präzisierte: "Dem Menschen einen Glauben schenken, heißt seine Kraft verzehnfachen." Glaube ließ ihn ungeheures Leid ertragen und ungeheure Leistungen erbringen, sei es für Gott oder dessen Propheten, für König oder Vaterland, für seine Sekte oder Weltanschauung.

Der christliche Glaube verlieh der abendländischen Zivilisation die Kraft, von einem Erdteil (Europa) aufzubrechen, zwei andere (Amerika und Australien) zu erobern und sich die beiden letzten (Afrika und Asien) zeitweise tributpflichtig zu machen.

Doch nach der Aufklärung im 18. Jahrhundert wurden Wissenschaft und Fortschritt neue Götzen in Europa. Materialismus in kapitalistischer und kommunistischer Ausprägung überspülte den Kontinent.

Der liebe Gott hatte es mit beiden schwer.

Bei erhöhten Temperaturen von Sozialismus und Wohlstand begann der Heilige Geist im Abendland zu verdampfen. Beim Tanz ums Goldene Kalb taugten die Zehn Gebote nicht recht als Regie-Anweisung.

"Noch vor 200 Jahren", analysierte Barbara S. Eisenbeiss, "war man davon überzeugt, der Glaube an Gott sei ein Gebot der Vernunft... Heute ist die gegenteilige Meinung vorherrschend."

Die Herde der Schäflein verringerte sich. Ein Drittel der Deutschen ist bereits konfessionslos. "Alle Epochen, in welcher der Glaube herrscht, in welcher Gestalt er auch wollte", schrieb Geheimrat von Goethe, " sind glänzend, herzhebend und fruchtbar für die Mitwelt und Nachwelt. Alle Epochen dagegen, in welchen der Unglaube... einen kümmerlichen Sieg behauptet... verschwinden von der Nachwelt, weil sich niemand gern mit Erkenntnis des Unfruchtbaren abquälend mag."

Wenn nicht vieles täuscht, treiben wir eben diesem Zustand zurzeit entgegen - es sei denn, man ist bereit, die wachsende Selbstsucht als neuen Glauben der sogenannten westlichen Wertegemeinschaft zu akzeptieren.

Buchtipp:

Joachim Fest

Claus Jacobi
Von Glück, Gespenstern und dem Geheimnis des Lebens
Denkanstösse über den Tag hinaus

208 Seiten, gebunden
Goldmann Taschenbuch

29,80 DM

ISBN : 3-7766-2074-9

Eine Auswahl von 78 Kolumnen, die Claus Jacobi in den letzten Jahren veröffentlicht hat, ist jetzt zum ersten Mal als unter Von Glück, Gespenstern und dem Gehiemnis des Lebens erschienen. Es sind Glanzstücke des deutschen Journalismus. Jacobi liebt Geschichte und Geschichten. "Political correctness" läßt ihn "kalt wie der Kuß einer Tante". Und er ist überzeugt: "Wenn Heuchelei dick machen würde, bräuchten unsere Parlamente Flügeltüren".

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