
Michael Stürmer , geboren 1939 in Kassel, ist seit 1973 ord. Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; 1988 bis 1998 war er Direktor des Forschungsinstituts für Internationale Politik und Sicherheit (Stiftung Wissenschaft und Politik) in Ebenhausen; daneben lehrte er als Gastprofessor in Harward, Princeton, Toronto, an der Sorbonne und an der School for Advanced International Studies in Bologna. Er ist außerdem Kolumnist führender internationaler Blätter ("Neue Zürcher Zeitung", "Financial Times") und seit 1998 für DIE WELT und WELT am SONNTAG tätig.
Von Michael Stürmer
Nach dem Geschichtsbruch am 11. September 2001 geht es um die Zukunft von Vertrauen und Freiheit
Das Lächeln gefriert auf den Gesichtern. Was ein Geschichtsbruch ist, braucht man seit dem 11. September niemandem zu erklären. Was es indessen bedeutet, wenn die Zukunft sich in militärischen Aufmärschen, Börsenabstürzen und Angst verhüllt, das ist heute die Frage, die über Wohl und Wehe der Staaten entscheidet - und damit über Sicherheit oder Unsicherheit, Vertrauen oder Verzweiflung.
Schwindel erfasst die Menschen, wenn sie an das Morgen denken. Plötzlich verspricht der Alltag, der gestern noch banal erschien, wenigstens den Schutz des Gewohnten. Wo das Ende der Sicherheit droht, treten Familie, Freundschaft, Liebe in eine andere, existenzielle Dimension.
Die große Politik und die kleine menschliche Individualexistenz treten in eine Beziehung, die in den täglichen Geschäften lange Zeit vergessen war. Der Angriff, der jeden treffen kann, macht den Menschen bewusst, wie fragil die Zivilisation ist, die vor acht Tagen noch ohne Dank und Anerkennung hingenommen wurde. Jetzt ist nichts, fast nichts mehr selbstverständlich. Merkwürdig, wie es den Intellektuellen die Sprache verschlagen hat: Der Ernstfall war immer nur imaginiert und niemals im Lebens- und Publikationsplan vorgesehen.
Jetzt wird unerbittlich sortiert danach, wer Teil des Problems ist, wer Teil der Lösung. Die Politiker, die gestern noch für die Sicherung des lauen Klimas gewählt wurden, müssen heute in Begriffen denken, die an Churchill erinnern: "Blut und Arbeit, Schweiß und Tränen." Die alten Beschwichtigungen, Mahnungen und Patentrezepte erweisen nur Unbegreifen einer Lage, die ohne Vorbild ist, Geschichtsbruch von jäher Unerbittlichkeit, der alles Gewohnte in Frage stellt und jedes Morgen unter das Apostelwort stellt: "So Gott will und wir leben".
In Krise und Entscheidung erweist sich, aus welchem Holz einer geschnitzt ist. Der Kanzler zeigt in der Krise, was bisher nur Floskel war, die ruhige Hand. Der Innenminister wächst, wie einst Helmut Schmidt beim Hamburger Hochwasser, in eine Rolle, die Realismus und Gestaltungskraft verbindet. Außenminister Fischer reagiert instiktsicher.
Untedessen erteilt der Bundespräsident Mahnungen, die zwar nicht falsch sind, aber aus einer anderen Welt kommen. Dem Verteidigungsminister fehlt seit seinen Eskapaden jene Autorität der Person und der Sache, die jetzt durch nichts zu ersetzen ist. Die Führung der Opposition macht den Eindruck, als sei sie noch im Schockzustand. Die Welt hat einen Wendepunkt erreicht. Aber niemand weiß, wohin.
Späte Nachricht kommt vom Staat. Die Menschen haben Angst, und nichts ist ihnen wichtiger als Vertrauen zur Politik. Doch ahnen sie, dass die Prüfungen erst begonnen haben. Der Staat des Abendlandes ist nicht erfunden worden als sozialpolitisches Labyrinth und Umverteilungsmaschine. Er trat in die Existenz in Gestalt des Hobbes'schen Leviathan, um dem jähen Tod entgegenzutreten und Leib und Leben zu schützen. Die Demokratie ist eine kostbare, zivilisierende Zugabe.
Vieles ist schal geworden, was gestern noch der Zerstreuung diente. Die Filmprogramme, die auf Horror setzten, sind von der Wirklichkeit überholt, ihr Reiz ist nur noch makaber. Den Spaßmachern hat es buchstäblich die Sprache verschlagen. Den Reiseunternehmern bleiben die Kunden weg: Wer weiß schon, wie er in ein paar Tagen, in ein paar Wochen zurückkommt? Das Zuhause ist keine Burg, aber es ist das Gehäuse der Gewohnheit, und wo die Außenwelt Risse zeigt, bietet die Innenwelt den Schein der Sicherheit. Die Kirchen, die über alles und jedes Kommentare losließen, müssen wieder an den großen Trost denken, den sie den Menschen schulden. Denn die Bilder tragen eine einzige Botschaft, wie im lutherischen Kirchenlied: "Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen."
Im Geschichtsbruch altert die Erfahrung über Nacht, und die Vergangenheit verliert alle prognostische Kraft. Das war 1989 so im guten, hoffenden Sinne. Es ist 2001 so im düsteren, ratlosen Sinne. Die Zukunft erscheint wie der Tunnel am Ende des Lichts. Dabei aber darf es nicht bleiben. Es gilt für die Politik das Wort der alten Felddienstordnung, dass, in der Krise nicht zu handeln, noch schlimmer ist, als zu handeln und Fehler in Kauf zu nehmen.
Es geht um mehr als um die Rekonstruktion des Alltags. Es geht um die Zukunft von Vertrauen und Freiheit.
Mit freundlicher Genehmigung der WELT-Redaktion und des Axel-Springer-Verlages, Berlin. Den Autor erreichen Sie unter: stuermer@welt.de