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Interviews

Zum Nachdenken

Claus Jacobi, Berlin

Stuermer

Claus Jacobi, 71, war bis Ende 1998 Herausgeber von "Welt am Sonntag". Jeden Samstag veröffentlicht er eine Kolumne in der Bild-Zeitung. Ausgewählte veröffentlicht TENDENZEN mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.










9. November

Simon - der Fischer aus Kapernaum - als Jünger Jesu Petrus genannt -, starb um 65. n. Chr. in Rom den Märtyrertod. Er wurde von seinen Glaubensbrüdern am Abhang eines Hügels bestattet. Drei Jahrhunderte später ließ Kaiser Konstantin der Große, ein ehemaliger Heide, der das Christentum zur Staatsreligion erhoben hatte, über der vermeintlichen Grabstelle eine Basilika errichten, die tausend Jahre den Raubzügen von Goten und Hunnen, Vandalen und Sarazenen widerstand: "Weil unter Deiner Führung die Welt sich triumphierend zu den Sternen erhoben hat, weiht Dir Konstantin der Sieger diese Halle", lautete die Inschrift.

Jedes Jahr gedenken Christen des Kaisers an jenem Tag, der an den Tag der Weihe der Petrus-basilika erinnert: am 9. November. "Es war ein Wendepunkt der Weltgeschichte", schreibt Peter Badde in seinem meisterlichen Buch "Die Himmlische Stadt" (Luchterhand-Verlag): "Es war der Anfang des Abendlandes."

Der 9. November hat sich seither die Mühe gegeben, seine ungewöhnliche geschichtliche Bedeutung von Zeit zu Zeit aufzufrischen. Am 9. November putschte sich der Korse Napoleon an die Macht und landete Amerikas Sonde "Surveyor VI" auf dem Mond, am 9. November starben Israels erster Präsident Chaim Weizmann, Englands Appeasement-Premier Neville Chamberlain und Frankreichs General-Staatschef Charles de Gaulle.

In Deutschland rief am 9. November 1918 der sozialdemokratische Minister ohne Geschäftsbereich (damals "Staatssekretär") Philipp Scheidemann vom Balkon des Berliner Reichstages gegen 14 Uhr die Republik aus. Der erste Weltkrieg war verloren, die Monarchie untergegangen.

Am 9. November schlug die bayerische Landespolizei vor der Münchner Feldherrenhalle einen nationalsozialistischen Putschversuch nieder. Adolf Hitler wurde zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt, aber nach einem Jahr wieder entlassen.

Am 9. November 1938 kam es zu antisemitischen Ausschreitungen der Nationalsozialisten in Deutschland. Innerhalb von 48 Stunden nach Abbruch der so genannten "Reichskristallnacht" wurden 91 Juden getötet, über 26 000 in Konzentrationslager verschleppt.

An 9. November 1989 zerbrach die Mauer, die Deutschland 28 Jahre geteilt hatte. Die Deutschen wurden wieder eins. Dieses Jahr werden wir den zwölften Jahrestag dieses Ereignisses feiern.

Auch an diesem 9. November werden in Kathedralen, Klöstern und Kapellen zum Gedenken an die Weihe der Petrus-Basilika vor über 1675 Jahren Worte aus der Offenbarung des Johannes verlesen, Worte aus der Warnung vor "Schalen des Zornes Gottes", in der es heißt: "Wenn jemand andere in das Gefängnis führt, der wird selber in das Gefängnis gehen."

Und was werden die Träger von Würde und Wichtigkeit unserer politischen Klasse tun, die den Tag ehren wollen, an dem die Mauern des deutschen Gefängnisses zerbrachen? Hoffentlich nicht wieder um die Redezeit beim Festakt rangeln.

Nicht jeder 9. November, so scheint es, zeichnet sich durch geschichtliche Bedeutung aus.

Claus Jacobi, Hamburg

Buchtipp:

Joachim Fest

Claus Jacobi
Von Glück, Gespenstern und dem Geheimnis des Lebens
Denkanstösse über den Tag hinaus

208 Seiten, gebunden
Goldmann Taschenbuch

29,80 DM

ISBN : 3-7766-2074-9

Eine Auswahl von 78 Kolumnen, die Claus Jacobi in den letzten Jahren veröffentlicht hat, ist jetzt zum ersten Mal als unter Von Glück, Gespenstern und dem Gehiemnis des Lebens erschienen. Es sind Glanzstücke des deutschen Journalismus. Jacobi liebt Geschichte und Geschichten. "Political correctness" läßt ihn "kalt wie der Kuß einer Tante". Und er ist überzeugt: "Wenn Heuchelei dick machen würde, bräuchten unsere Parlamente Flügeltüren".

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