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Interviews

ZWISCHENRUF

Der fatale Wettlauf

In der Karwoche war ich auf der Beerdigung einer alten Freundin. Weil sie Theodor Fontane überaus schätzte, las ihr Sohn uns vor, wie es war, als Effi Briest von dieser Welt ging:

"So verging der Sommer, und die Sternschnuppennächte lagen schon zurück. Effi hatte während dieser Nächte bis über Mitternacht hinaus am Fenster gesessen und sich nicht müde sehen können. ‚Ich war immer eine schwache Christin; aber ob wir doch vielleicht von da oben stammen und, wenn es hier vorbei ist, in unsere himmlische Heimat zurückkehren, zu den Sternen oben oder noch drüber hinaus! Ich weiß es nicht, ich will es auch nicht wissen, ich habe nur die Sehnsucht.'"

Es gehört zum Wesen des Menschen, die Grenzen der sinnlich erkennbaren Welt überschreiten zu wollen. Höchstwahrscheinlich macht diese Eigenschaft das spezifisch Menschliche überhaupt aus. Am Beginn der Menschheit stand jener Moment - so meint der Historiker Ernst Nolte in seinem Alterswerk "Historische Existenz" -, "als irgendwo Lebewesen sich zur Beerdigung von Sippenangehörigen versammelten und dabei die Köpfe zur Sonne oder zum Mond erhoben, um in artikulierten Lauten oder schweigenden Intentionen Bitten oder auch Dank zum Ausdruck zu bringen." Das wäre nach der Bibel der sechste Tag gewesen, als Gott sprach: "Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei." Wir wissen, wie die Geschichte weiterging und dass in ihr nicht nur Gott, sondern auch die Schlange vorkommt: "An dem Tage, da ihr davon esset, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist."

Sein wie Gott! Die letzten Wochen waren bestimmt von hoch moralischen und komplizierten Debatten über Embryonenschutz, pränatale Selektion und wieder einmal Klonierung menschlicher Lebewesen. Dazu die Meldungen über das holländische Sterbehilfegesetz, welches ausdrücklich die Grenze vom Sterbenlassen zum aktiven Töten überschreiten möchte. Eine im Sturzbach ihres Wissens durcheinander geratene Menschheit versucht so etwas wie einen zweiten Sündenfall. Der Antichrist geht um, und wir sind dabei, unser eigentlich Menschliches aufzugeben. Jedenfalls kommt die Seele des Menschen im Wettlauf mit seinem Wissen zu kurz. Oder zu spät.

Es gibt ein Gleichnis, das von den Folgen des Zuspätkommens handelt, aber auch vom Wert des Innehaltens. Das Bild von den fünf klugen und fünf törichten Jungfrauen. In Europas Parlamentshauptstadt Straßburg kann man es sogar sehen. Eingemeißelt ins Außenportal des weltberühmten Münsters. Die Klugen stehen den Törichten gegenüber, deren Lampen nicht leuchten, weil sie das Öl zur Unzeit haben verbrennen lassen.

In seinen berühmten Evangelienpredigten hat Martin Luther das Gleichnis übersetzt. Das Öl, das die anderen haben niederbrennen lassen, steht für "den rechten Glauben an Christum". Die Klugen haben bewahrt, "womit sie sich verteidigen können - denn sie haben Gottes Werk bei sich und nicht einen gedichteten, gemachten menschlichen Wahn".

Bei allen haarsträubenden Ereignissen, von denen eingangs die Rede war: Es gibt nicht nur die Törichten, auch bei den Klugen tut sich was. Und sie haben nicht einmal die Moderne gegen sich. Jedenfalls nicht in allen Fällen. Selbst Hollywood, so das Kinomagazin "movie guide", hat im Jahr 2000 doppelt so viele Filme mit einem "positiv christlichen Inhalt" produziert wie noch 1997; es macht sich offensichtlich bezahlt, im Film auch Tugenden zu propagieren. Ein Beispiel war "Der Patriot" mit Mel Gibson.

"Die Disco-Queen ist bibeltreue Christin" titelte jüngst die "Bild"-Zeitung über eine Ikone der Pop-Musik, Gloria Gaynor, die mit ihrem Lied "I will survive" - ich werde überleben - mit neuem Text "Jesus Christus ein Denkmal setzen" will. Der Fußballweltmeister Frankreich erkor diesen Song zu seiner Hymne, er gilt heute als einer der größten Erfolge der Musikgeschichte.

Es ist auch gut, was sich - ohne falsche Gleichmacherei - im Verhältnis Katholiken und Protestanten tut. Eine Stärkung für alle Gutwilligen war zum Beispiel der Mut des politisch eher linksgerichteten evangelischen Landesbischofs Johannes Friedrich aus Bayern, eine konstruktive Aussprache über den Papst als Sprecher der gesamten Christenheit zu eröffnen. Dass es danach wilde Debatten gab, gehört bei uns Evangelischen zum guten Ton und macht nichts. Querköpfigkeit gab es schon unter den Reformatoren und unter den Aposteln auch. Übrigens: Als Pius XII. 1952 den Protestanten Thomas Mann im Vatikan empfing, kniete der Lübecker Freigeist vor ihm nieder und feierte ihn als "ein weiß gekleidetes Idol priesterlicher Milde, das zwei Jahrtausende Geschichte der westlichen Welt verkörpert".

Dr. Peter Gauweiler, München

Dieser Beitrag erschien zuerst in WELT am SONNTAG.
Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und des Axel-Springer-Verlages

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