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Der Damm ist längst gebrochen

In der Schweiz ist die ärztliche Hilfe zu Selbstmord straffrei

Hitzige Diskussionen begleiten die Entscheidung des niederländischen Parlaments über das Gesetz zur Straffreiheit der Euthanasie. Während die Befürworter es begrüßen, dass lediglich eine lange geübte Praxis legalisiert wird, befürchten die Gegner wachsenden Missbrauch und das Brechen aller Dämme. Doch der befürchtete Dammbruch ist längst Realität - nicht nur in Holland.

In der Schweiz ist die ärztliche Beihilfe zum Selbstmord straffrei, solange keine eigennützigen Motive dahinter stehen. Zwischen 100 und 200 todkranke Menschen setzen ihrem Leben auf dieser gesetzlichen Grundlage jedes Jahr ein Ende.

Andere Staaten haben eine wesentlich restriktivere Gesetzgebung. Dennoch hat sich auch dort vielfach eine Praxis durchgesetzt, wie sie bereits vor dem neuen Gesetz in Holland üblich war. Für Australien ergab eine Befragung von 2000 Ärzten laut "Medical Journal of Australia", dass 30 Prozent aller Todesfälle im Jahr 1995 "auf die ärztliche Entscheidung zurückgingen, den Tod des Patienten zu beschleunigen (5,3 Prozent) beziehungsweise keine lebensverlängernden Maßnahmen zu ergreifen (24,7 Prozent).

In den Niederlanden standen den 30 Prozent von Australien für den gleichen Zeitraum lediglich 16 Prozent gegenüber - bei gleich lautenden Fragebögen in beiden Ländern. Ein belgischer Vergleichswert liegt bei 18,5 Prozent. Zahlen aus anderen Ländern liegen nicht vor, lediglich eine Umfrage von 1996 unter 2000 US-Ärzten, die ergab, dass unter den herrschenden gesetzlichen Vorgaben elf Prozent den Tod eines Patienten beschleunigen würden, sieben Prozent würden sogar selbst eine tödliche Injektion setzen.

Die Werte erhöhen sich auf 36 beziehungsweise 24 Prozent, wenn derartige Vorgehensweisen legal wären (Quelle: "New England Journal of Medicine").

Obwohl insgesamt nur wenige Daten vorliegen, ist die Vermutung berechtigt, dass auch in anderen Staaten die ärztliche Sterbehilfe längst gängige Praxis ist. In den meisten Fällen - mehr als zwei Drittel - besteht diese Sterbehilfe darin, dass keine lebensverlängernde Behandlung mehr durchgeführt wird, beziehungsweise bereits begonnene Maßnahmen abgebrochen werden. Nach niederländischen Statistiken sind die Betroffenen zu mindestens 85 Prozent Krebspatienten im Endstadium, die unerträgliche Schmerzen erdulden müssen. Sie von diesem Leiden zu erlösen, gehört zu den wichtigsten Argumenten der Ärzte, die eine Sterbehilfe befürworten.
Der niederländische Arzt Karel Gunning, einer der exponiertesten Gegner des neuen Euthanasie-Gesetzes, hält jedoch dagegen: "Schmerzen können in 100 Prozent aller Fälle verhindert werden, selbst, wenn in wenigen Einzelfällen extreme Maßnahmen notwendig werden."

Auch in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren die Situation von Schmerzpatienten verbessert, die lediglich behandelt werden, um ihre Schmerzen zu lindern, nicht, um die eigentliche Krankheit zu heilen - eine so genannte palliative Behandlung. Doch die Verhältnisse sind noch lange nicht optimal, und zudem gehen die Ansichten der Experten auseinander. "Die palliative Medizin wird nie alles Leiden beseitigen können - das ist ein unrealistischer Traum", sagt Roger Hunt, ein führender australischer Facharzt.

Hinzu kommt, dass - auf Deutschland bezogen - die Entwicklung der Schmerztherapie nur schleppend vorankommt, nicht zuletzt wegen immenser Kosten. So kann ein Arzt mit drei Tumorpatienten im Jahr leicht auf 800.000 bis 900.000 Mark abzurechnende Kosten kommen. Ist das ein Grund, warum Spezialisten für Palliativmedizin in Deutschland nur auf so genannten Stiftungslehrstühlen sitzen, die aus Drittmitteln pharmazeutischer Firmen finanziert werden?

Die Frage ist ebenso provozierend wie die jüngst in der Zeitung "Christian Renewal" veröffentlichte Feststellung: "In den vergangenen 30 Jahren ging die Entwicklung in Holland vom begleitenden Selbstmord zur Euthanasie, von der Euthanasie todkranker Menschen im Endstadium zur Euthanasie chronisch Kranker, von der Euthanasie physischer Krankheiten zu psychischen Krankheiten, von psychischen Krankheiten zu psychologischen Leiden und von der patientenbestimmten Euthanasie zum endgültigen Ende ohne Mitbestimmung des Patienten."

So berechtigt die Warnung vor einem Missbrauch der Euthanasie ist, so wenig hilfreich ist Polemik, warnt Roger Hunt: "Wenn die Gegner Euthanasie als Mord bezeichnen, dann ist jeder chirurgische Eingriff eine Messerstecherei und jede körperliche Liebe wird zur Vergewaltigung."

Hans Bewersdorff, WELT am SONNTAG

Dieser Beitrag erschien zuerst in WELT am SONNTAG.
Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und des Axel-Springer-Verlages

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