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Interviews

Zum Nachdenken

Claus Jacobi, Berlin

Stuermer

Claus Jacobi, 71, war bis Ende 1998 Herausgeber von "Welt am Sonntag". Jeden Samstag veröffentlicht er eine Kolumne in der Bild-Zeitung. Ausgewählte veröffentlicht TENDENZEN mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.










Nur 26 Buchstaben

von Claus Jacobi, Hamburg

Das sommersprossige Mädchen war zu jung, um lesen zu können, aber alt genug, um zu sterben. Die Mutter saß an seinem Bett und las im vor, vom treuen Hund und von Alice im Wunderland, von Feen, Waisen und Prinzen. "Werden mir im Himmel die Engel vorlesen?" fragte das Kind in seiner letzten Stunde. "Noch schöner" versprach die Mutter: "Dort wirst du selbst lesen können."

Lesen können ist etwas Wunderbares. Alles, was Menschen je erdacht, erlebt, erzählt und aufgezeichnet haben, ist durch eine unterschiedliche Anordnung von (bei uns) 26 Buchstaben für ewig festgehalten: Erhabenes und Niedriges, Gottes Wort und Huren-Beichte, Großes und Kleines, Schmerz und Trost, Weisheit oder Quatsch und Qualm. Wer lesen kann, kann es in sich aufsaugen.

"Lies, um zu leben", schrieb Gustave Flaubert 1857 an Fräulein de Chantepie. Hast du drei Tage kein Buch gelesen, werden deine Worte seicht, heißt es in China. Lesen macht Schwache stark, Arme reich, Dumme klug. Es ist Ferment der Freiheit. Es öffnet der Phantasie die Pforten zu immer neuen Paradiesen. Als Jorge Luis Borges schon fast erblindet war, begann er noch, Altenglisch zu studieren. "Jorge", schalt seine 88jährige Mutter, "ich begreife nicht, warum du deine Zeit mit Altenglisch verschwendest, statt etwas Nützliches zu lernen wie Latein oder Griechisch." Einer der größte Bücherdiebe hieß ausgerechnet Graf Libri.

In seiner bewegenden "Geschichte des Lebens", der diese Angaben entstammen, hat Alberto Manguel nachgezeichnet, wie Herrscher zu verhindern suchten, daß ihre Untertanen lesen konnten.

Bücherverbrennungen sind eine der ältesten Erscheinungen der Tyrannei. 411 n. Chr. wurden in Athen die Werke des Protagoras verbrannt, der wegen Gottlosigkeit verurteilt worden war, entfloh und bei einem Schiffbruch ums Leben kam. 200 Jahre später probierte Chinas Kaiser Shihuang-ti, das Lesen abzuschaffen, indem er anordnete, alle Schriften in seinem Reich zu verfeuern. Kaiser Augustus trieb Ovid ins Exil und verbot seine Werke. Kaiser Caligula befahl, Schriften Homers zu vernichten. Goethe wurde in Frankfurt Zeuge einer Bücherverbrennung. Hitlers Propagandaminister Goebbels ließ 1933 in Berlin 20 000 Bücher vor 100 000 Zuschauern verbrennen. In South Carolina untersagte ein Gesetz bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Schwarzen das Lesen beizubringen. Die Sklavin Belle Myers Carothers versuchte, es zu lernen, während sie das mit Buchstabenklötzen spielende Kind ihres Plantagenbesitzers beaufsichtigte. Als er sie dabei ertappte, trat er sie mit seinen Stiefeln.

Lange war Lesenkönnen Vorrecht einer Minderheit. Dann übte es die Mehrheit. Aber noch immer leben über eine Milliarde Analphabeten auf Erden, Millionen davon unter uns in Deutschland.

Und wenn nicht vieles täuscht, steht dem Lesen im Zeitalter der bewegten Bilder von TV, Video und Internet, von CD-ROM und Handy ein neuer Härtetest bevor. 50 Jahre ist es her, daß das sommersprossige Mädchen auf seinem Sterbebett in Hamburg vom Lesen im Himmel träumte. Ein Jahr später leuchteten in der Bundesrepublik die ersten Mattscheiben auf.

Buchtipp:

Joachim Fest

Claus Jacobi
Von Glück, Gespenstern und dem Geheimnis des Lebens
Denkanstösse über den Tag hinaus

208 Seiten, gebunden
Goldmann Taschenbuch

29,80 DM

ISBN : 3-7766-2074-9

Eine Auswahl von 78 Kolumnen, die Claus Jacobi in den letzten Jahren veröffentlicht hat, ist jetzt zum ersten Mal als unter Von Glück, Gespenstern und dem Gehiemnis des Lebens erschienen. Es sind Glanzstücke des deutschen Journalismus. Jacobi liebt Geschichte und Geschichten. "Political correctness" läßt ihn "kalt wie der Kuß einer Tante". Und er ist überzeugt: "Wenn Heuchelei dick machen würde, bräuchten unsere Parlamente Flügeltüren".

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